: Werbespots und Internet statt Freitagsgebet
Aufrufe zum Wahlboykott und wachsende Unzufriedenheit. Die Mullahs fürchten um ihre Macht und greifen im Wahlkampf zu modernen Mitteln
BERLIN taz ■ Diese Wahlen sind ganz anders als sämtliche Wahlen, die bisher in der Islamischen Republik stattgefunden haben. Zum ersten Mal buhlen die Machthaber um die Gunst der Wähler. Nicht ohne Grund. Das Regime sieht sich durch den Druck von außen und innen gezwungen, den Beweis zu erbringen, dass das Volk ihm noch Gefolgschaft leistet.
Das war früher anders. Die Wähler leisteten, mehr aus Angst als aus Überzeugung, ihre staatsbürgerliche Pflicht. Doch seit zwei Jahren weigern sie sich zunehmend. Die Angst ist verschwunden, die Unzufriedenheit steigt von Tag zu Tag. Inzwischen hat sich die passive Wahlverweigerung in aktiven Aufrufen zum Wahlboykott verwandelt. Zahlreiche Verbände und Organisationen, darunter die größte Studentenorganisation, Tahkim Wahdat, sowie eine ganze Reihe namhafter Dissidenten und auch Politiker, die bis vor kurzem den Reformkurs des amtierenden Präsidenten Chatamis unterstützten, haben an die Wähler appelliert, an diesen Scheinwahlen nicht teilzunehmen. Wahlen, bei denen nur acht von mehr als tausend Bewerbern zugelassen wurden, seien entwürdigend, wird argumentiert.
Die Situation ist für die Hirten des Gottesstaates äußerst prekär. Es droht die Gefahr, dass das Volk ihnen einfach davonläuft. Das System des „welayate faghieh“, der absoluten Herrschaft der Geistlichkeit, hat, bis auf jene, die an diesem System existenziell gebunden sind, keine Basis mehr. Die Gründe für die immer massiver werdende Ablehnung liegen nicht allein in den politischen Einschränkungen, die dieses System der Bevölkerung auferlegt, sondern auch darin, dass dieses System hohe Dämme errichtet hat gegen den Strom unserer Zeit, gegen die Errungenschaften einer modernen, aufgeklärten Welt, gegen die schöpferische Fantasie und freie Entwicklung der Kultur, Kunst und Literatur, gegen die Emanzipation der Frauen, gegen alles, was die Jugend begehrt, was Lust und Spaß macht.
Der islamische Gottesstaat hat ungewollt zu einer tief greifenden Auseinandersetzung mit dem Islam herausgefordert. Wie in keinem anderen islamischen Land wurden die moralischen und ethischen Vorstellungen der Islamisten, die politische Instrumentalisierung der Religion, ja sogar der Koran und die Überlieferungen des Propheten kritisch unter die Lupe genommen. An dieser Auseinandersetzung sind auch zahlreiche Geistliche beteiligt, darunter solche, die einst zu den eifrigsten Verfechtern des Gottesstaates zählten. Sie fordern die Anpassung des Islam an die Konvention der Menschenrechte und die Trennung der Religion vom Staat.
Die so entstandene Zivilgesellschaft hat sich während der letzten Jahre meilenweit von den gesellschaftlichen Vorstellungen der Islamisten weit entfernt. Diese junge, dynamische, nach Moderne strebende Gesellschaft ist für die politisch und ideologisch vergreisten Islamisten unerreichbar geworden.
Es war recht kurios zu beobachten, wie die Kandidaten bei diesem Wahlkampf versuchten, die Gunst der Wähler zu erringen. Alle betonten die Notwendigkeit von Reformen. Anstatt das Freitagsgebet und die Moscheen für die Wahlwerbung zu instrumentalisieren, engagierten sie moderne Werbeagenturen, ließen von populären Filmemachern Werbespots produzieren, verteilten Flyer mit flotten Sprüchen. Sie richteten Homepages ein und benutzten das bislang verschmähte Internet für die Wahlwerbung, Texter und Musiker produzierten Wahlkampflieder.
Dieser Wahlkampf machte deutlich, dass das System des welayate faghieh längst überholt und der Wandel unaufhaltbar geworden ist. Gleichgültig, wer aus den heutigen Wahlen als Sieger hervorgeht, die Mullahs werden nicht ewig gegen ein Volk regieren können, das sie nicht haben will. BAHMAN NIRUMAND
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