Kafkas „Die acht Oktavhefte“ in Hamburg: Nebelhorn im Schattenreich
Am Schauspielhaus unternimmt Thom Luz eine Spurensuche in Kafkas Fragmentsammlung. Er löst ihr Rätsel nicht, aber die Detektivarbeit macht Freude.
Misstrauisch hätte man vor zwei Stunden schon werden müssen, darüber, wie leicht hier alles scheint. Gar nicht mal nur dieses monströse Klavier, das an einem Seil von der Decke baumelt und hübsch funkelt, wenn es sich ins Scheinwerferlicht dreht. Direkt darunter liegt ein Mensch im Bett und wartet auf sein Ende. Und das wohl auch zu Recht, weil unter dem mehrfach übersetzt durch den Raum gespannten Strick eine Kerze brennt, die rauchend und manchmal zischend seine Fasern wegfrisst. So lange dauert es, dass man unruhig wird, weil man so viel Zeit hat, sich vorzustellen, wie einem beim nächsten Zischen ein Klavier in den Rücken kracht.
Über so was denkt man nach und vielleicht über die symbolische Reibung hoher Kunst und zertrümmerter Knochen. Was hingegen völlig in Vergessenheit gerät, ist die unsichtbare Sicherung des Klaviers – die Tricktechnik also, der man hier längst hoffnungslos erlegen ist. Denn wie gesagt: Misstrauisch hätte man zwei Stunden vorher werden müssen. Und war es nicht geworden.
Es ist Kafka, den der Schweizer Regisseur Thom Luz im Hamburger Schauspielhaus inszeniert. „Die acht Oktavhefte“ ist eine zunächst nicht mal lose zusammenhängende Sammlung von Skizzen: für Briefe oder Erzählungen, die Kafka zwischen Ende 1916 und dem Frühjahr 1918 mit Bleistift notiert und nicht selten gleich wieder durchgestrichen hat. Nüchtern notiert werden auch Stimmungslagen und Zustände: Angst, Einsamkeit und Sterben – aber auch profanere Angelegenheiten wie Hexenschüsse oder Verstopfung.
Zwischen diesen Miniaturen und Fragmenten macht sich Thom Luz mit Musiker:innen und Schauspielensemble nun auf die Suche. Nach etwas Verbindendem und Gemeinsamem vielleicht, aber so ganz genau erklären sie einem eigentlich nicht mal das.
Die acht Oktavhefte: wieder am 4. 3., 20 Uhr, Schauspielhaus, Hamburg; weitere Termine: 28. 3., 30. 3. und 10. 4.
„Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“, lautet der erste Satz des ersten Notizheftes, der durch die angebotene Beweisführung sogar noch irritierender wird: „Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen.“ Das klingt rätselhaft, ist aber programmatisch für diesen Abend.
Alles befindet sich in permanentem Umbau: In Zimmermannshosen und schwarzen Kapuzenpullis eilt der Chor unentwegt durch Duri Bischoffs Bühnenbild, stellt Leitern und Türen auf und schiebt Gebäudeelemente durch die Gegend. Wie gestresste Gastgeber:innen zu kurz vor der Party wuseln Schauspieler:innen dazwischen, scheinen Anweisungen zu geben, oder gucken bestürzt drein, weil immer noch nichts fertig ist.
So richtig wird es das zwar auch nicht, aber das Bild verdichtet sich immerhin: zu einem instabilen Raum zwischen hohen, nikotingelben Wänden mit grotesk großen Fenstern, durch die man ins windschiefe Modell einer abschüssigen Altstadtgasse blickt. Textfragmente flackern an den Wänden auf, die mit Daniele Pintaudis Klavierspiel zu korrespondieren scheinen, meist aber viel zu schnell verschwinden, um wirklich gelesen zu werden.
„Stille“ kann man des Öfteren in diesem Wörterkompott entdecken, aber auch „Dröhnen“. Es ist schon verblüffend, wie weit sich Kafkas Text in den Hintergrund zurückzieht, während er im Bühnengeschehen sogar gedruckt allgegenwärtig scheint.
Natürlich wird er auch gesprochen. So eindringlich sogar, dass man sich fast Sorgen macht, wie traumwandlerisch sicher sich die Schauspieler:innen durch diese zutiefst verstörende, weil hoffnungslose Nebenwelt voller Geister bewegen.
Ab und an senkt sich ein Nebelhorn vom Schnürboden herab, um lautstark dazwischenzutröten – ganz besonders dann, wenn gerade wer ansetzt zu erzählen, was er oder sie wirklich gern möchte.
Vielleicht ist es die Autorität selbst, nach der man ja immer sucht im Kafka, für die er geradezu berüchtigt ist. Nur scheint sie hier sonderbar dezent – für Nebelhorn-Verhältnisse jedenfalls. Wie das Störgeräusch wird auch Musik zum Puzzleteil: in sich wiederholenden Motiven im Spiel von Klavier und Trompete, aber auch in den Texten, Melodien und Atmosphären französischer Chansons. Ganz besonders schön: Wie Aristide Bruants „A Batignolles“, mit dem der Chor hier durch die Gänge des Schauspielhauses wandert, mal sphärisch leise aus den Wänden hallt. Dann singen sie es plötzlich lautstark oben auf den Rängen.
Ja, die Lieder sind wunderschön. Auch im Schauspiel gibt es ergreifende Momente subtiler Zärtlichkeit, das Bühnenbild ist eine Augenweide, lustig ist es auch noch und selbst das banalste Textfragment klingt hier wie ein aufs Schärfste geschliffener Aphorismus. All das sind Zutaten, mit denen Thom Luz den Blick auf Textexegese wohl eher verstellt als schärft, die dafür aber eine zum Schneiden dichte Atmosphäre auf die Bühne zaubern.
Und das ist so schön, dass man es am liebsten gleich noch mal sähe – nur um sich noch etwas tiefer darin zu verlaufen und beim nächsten Mal vielleicht sogar noch etwas weniger zu verstehen.
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