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Roman „Benito“ von Hendrik OtrembaWir glauben an die Verborgenheit

Ein blinder Seher simuliert einen Terroranschlag – warum? „Benito“ heißt der neue Roman von Hendrik Otremba über anarchistisches Denken.

Hendrik Otremba ist bildender Künstler, schreibt Romane und ist Sänger der Band Messer Foto: Max Zerrahn

Die Figur des blinden Sehers ist alt, vielleicht so alt wie die Menschheit. Menschen, die nichts oder nur wenig sehen, schärfen die übrigen Sinne, um den Mangel an visueller Erfassung der Welt auszugleichen. Wir nehmen die Welt in einem synästhetischen Prozess wahr, in dem sich die Sinne ergänzen, auch wenn die abendländische Kultur dem Sehen im wörtlichen Sinn Priorität verliehen hat.

Benito, der Hendrik Otrembas neuem, drittem Roman den Titel gegeben hat, ist solch ein blinder Seher. Er besitzt die Fähigkeit, die Welt zu erkennen, wie sie ist, weil er sich von deren Schein nicht blenden lässt. Er blickt, wie sein Erfinder schreibt, hinter die Oberflächen. Wie die biblischen Propheten mahnt er die Menschen zur Umkehr, damit nicht eintreten möge, was er in der Zukunft sieht.

Hendrik Otremba schickt uns in seinem Roman auf eine Reise in die Vergangenheit. Wir schreiben das Jahr 2026. Der Erzähler, ein Essayist und Kulturwissenschaftler, kehrt von einer drei Jahre dauernden Auszeit im Apennin nach Deutschland zurück. Dorthin hat er sich geflüchtet, weil ihm die Fähigkeit zu schreiben abhandengekommen ist.

Noch bevor er seine erste Vorlesung hält, nimmt er die Einladung zu einer Veranstaltung an, die im Bonner Hotel Paradies stattfinden soll. Dort versammelt sich Prominenz aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Auch der neugierige Erzähler fährt hin, obwohl – oder weil – er nicht weiß, wer ihn eingeladen hat.

Das Buch

Hendrik Otremba: „Benito“. März Verlag, Berlin 2022, 504 Seiten, 28 €

Kaum hat das Stelldichein der Wichtigen und sich für wichtig Nehmenden begonnen, bricht Panik aus. Ein schwarz gekleideter Attentäter schießt wild um sich, dann begibt er sich Richtung Ausgang, zündet sich selbst an, tritt vor die Tür, feuert auf die inzwischen angerückte Polizei und wird selbst erschossen.

Der Erzähler hat den Mann schnell erkannt, es ist sein alter Freund Benito, und er hat längst verstanden, dass Benito im Hotel Paradies niemanden erschossen hat. Zwar waren Schüsse zu hören und Mündungsfeuer zu sehen, doch keine Kugel hat seine Waffe verlassen. Sie ist eine Attrappe, der vermeintliche Terroranschlag eine Simulation. Benito wollte etwas sagen, aber was?

Reise in die Vergangenheit

Hendrik Otremba erzählt die Geschichte der Reise in die Vergangenheit in zwei Strängen, die parallel laufen und sich ergänzen. Der erste Strang ist aus der Perspektive des Erzählers geschrieben, der sich auf die Suche nach den Motiven Benitos macht, mit dem er einst eng befreundet war, als die beiden Jungen in dieselbe Pfadfindergruppe gingen.

Der zweite Erzählstrang berichtet von einer Flussfahrt dieser Gruppe, die sich Schwarze Steine nennt. An ihrem Ende ereignet sich etwas, das der Erzähler verdrängt und das den blinden Benito endgültig zum Seher und zornigen Propheten gemacht hat: „Es muss etwas geschehen, etwas, das die Menschen aufweckt. Die Menschen müssen die Liebe wiederfinden, die Liebe zu sich und zu allem, das existiert. Der Schaden, der entstanden ist, wird morgen schon nicht mehr zu beheben sein. Die Welt wird untergehen, wenn die Menschen nicht reagieren, wenn sie sich nicht abwenden von Krieg und Vernichtung, von Verschmutzung und Zerstörung, von Hass und Ausbeutung.“

Der heilige, alttestamentlich anmutende Zorn, der sich in diesen Worten Benitos Bahn bricht, könnte befremdlich erscheinen, da er aus dem Mund eines Kindes kommt, aber das tut er nicht. Ist der Leser vom Autor mit gekonnter Leichtigkeit doch längst in eine Welt hineingezogen worden, in der kein Erwachsenenrealismus herrscht, sondern das magische Denken, der magische Realismus der Kindheit.

Sie sind ja unter sich, die Schwarzen Steine Benito, Kippe, Mücke, Uğur, Fliegentöter und Cherubim, der sich bald als das kindliche Alter Ego des Ich-Erzählers herausstellt. Ihr Pfadfinderhäuptling ist zwar schon 19 Jahre alt, aber noch nicht ganz getrennt von der Sphäre der Kindheit.

Alle auf ihre Weise Außenseiter

Benito und Uğur sind Waisen. Cherubim leidet darunter, dass sein alkoholkranker Vater getrennt von der Familie lebt. Die Eltern Fliegentöters sind zu erfolgreich und mit sich selbst beschäftigt, um sich um ihr einziges Kind zu kümmern. Auch die anderen jungen Pfadfinder sind auf je eigene Weise Außenseiter. Sie stehen für uns alle, trennt doch jede und jede eine unsichtbare Barriere von dem, was man Gesellschaft nennt.

Denn was für Cherubims Pfadfinderfreund Kippe gilt, lässt sich über alle sagen: All dessen Eigenschaften, so heißt es in der Flusserzählung, „tanzten auf einer Eisfläche, die zwar trug, sicheres, dickes Eis, aber deren darunter liegendes Wasser das Fragile bedeutete, abgegrenzt und versteckt, für eine andere Zeit, aus einer anderen Zeit“. In seinem Volumen sei dieses Wasser „größer als alles darauf“.

Angesichts dieser unkommunizierbaren Volumina im Inneren der Einzelnen, deren diese sich nicht einmal selbst bewusst sind, erscheint verständlich, aber auch paradox, dass Benito die Einheit der Menschen und ihre Liebe zueinander beschwört. Dieser Wunsch nach Einheit ist es auch, der ihn schließlich, als erwachsenen Mann, zur radikalen Tat eines pazifistischen Attentats schreiten lässt, dem physisch nur sein Urheber, er selbst, zum Opfer fällt. Es liegt nahe, dass Otremba den Fahrtennamen seines blinden Sehers nicht zufällig gewählt hat.

„Benito“ ist nicht nur ein hervorragend erzählter Roman, sondern auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des wilden und manchmal gefährlichen Denkens, in der individualanarchistische Impulse dazu neigen, die Propaganda der Tat als reinen Ausdruck des als notwendig Erkannten erscheinen zu lassen. Benitos Fanal zeigt sich seinem Interpreten Cherubim so bald als eine Handlung, die ästhetische Überlegungen der Surrealisten und anderer antibürgerlicher Avantgardebewegungen aus dem Reich der Kunst in den Raum des Politischen transponiert.

Gefahren der Souveränität des Einzelnen

Cherubim sieht sich auf seiner zweiten Reise zusehends mit dem eigenen Trauma konfrontiert. Zudem muss er sich der Frage stellen, worin sich seine Haltung gegenüber der Welt, die er sich schreibend erschließt, von Benitos Willen zur Tat unterscheidet: „Ich hatte mit dem Schreiben immer jene Lücke zu schließen versucht zwischen dem, wie ich mir die Welt wünschte, und dem, wie ich sie vorfand. Doch es wollte mir nicht mehr gelingen.“

Benito versucht, diese Lücke auf seine Weise zu schließen, indem er nicht schreibt, sondern liest: Cherubim entdeckt, dass Benitos Simulation eines Terroranschlags Überlegungen des radikalen Theatermachers Antonin Artaud folgte. Otremba hat Benito eine Bibliothek eingerichtet, in dem die Bücher von Burroughs, von Kafka, Boyle, Houellebecq, Pahlaniuk, Jünger und des Una-Bombers stehen.

Cherubim hat nach der Flussfahrt den Kontakt zu den anderen verloren. Die restlichen Schwarzen Steine aber haben einen Schwur geleistet: „Wir versprechen, dass wir niemals jemand sein wollen. Wir wollen auch vergessen, wer wir sind. Wir glauben an die Verborgenheit und die Verkleidung.“

„Benito“ ist ein anarchistischer Roman, der um die Gefahren eines Denkens weiß, das sich auf die Souveränität des Einzelnen beruft. Im Anarchismus ist für Otremba aber der ursprüngliche magische Impuls aufbewahrt, den die Menschen der Moderne vergessen haben: Die Welt erschließt sich nur im Hier und Jetzt. Benito gibt seinem Freund also ein Mantra auf den Weg: „Ich bin hier, jetzt gerade, in diesem Augenblick.“

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