„Hört sich wenig an, macht aber einen gewaltigen Unterschied“

Auf großen Gebieten der Nordhalbkugel ist die Erde dauergefroren. Der Klimawandel ändert das schon heute. For­sche­r:in­nen in Potsdam untersuchen, was der Verlust von Permafrostböden für uns bedeutet. Sie sind besorgt

Wegen des Klimawandels hat sich die Permafrostgrenze in einigen Regionen Europas schon über mehrere Hundert Kilometer Richtung Norden verschoben. Klimastation des Alfred-Wegener-Instituts im norwegischen Bayelva im Sommer Foto: Fo­to:­Ni­ko Bornemann/Alfred Wegener Institut

Von Nick Reimer

Es sieht aus wie in einem Coronalabor: Zwei Menschen, dick eingepackt in Schutzkleidung, werkeln an einem Tisch mit Pipetten und Petrischalen. Durch ein Fenster beobachtet Moritz Langer das Treiben. Der promovierte Geograf trägt einen grauen Strickpulli, Kurzhaarschnitt und ein Lächeln auf den Lippen. „Anders als bei Corona schützt hier die Vollmontur die Probe vor dem Menschen, nicht umgekehrt“, sagt Langer.

Die Probe, das ist ein Bohrkern, dessen Inhaltsstoffe ermittelt werden sollen: „Der stammt aus dem Norden Kanadas, dort, wo es so kalt ist, dass die tieferen Bodenschichten niemals auftauen“, erklärt Langer. Eine der Personen im Labor greift zur Säge. „Jetzt wird der Kern geschlachtet“, kommentiert der Forscher vom Alfred-Wegener-Institut in Potsdam das Geschehen. Schlachten sei das Zerlegen des Bohrkerns in einzelne Proben. Diese untersuche man anschließend genauer.

Etwa 15 Prozent der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist permanent gefroren. Das sind über 21 Millionen Quadratkilometer in Alaska, Nordkanada, Nordskandinavien und Sibirien. Der Permafrost wirkt wie eine riesige Tiefkühltruhe, in der gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste eingefroren sind. Taut aber das Eis, zersetzen Mikroben die Pflanzenreste und setzen dabei Treibhausgase wie Methan, Lachgas oder Kohlendioxid frei. Allein im oberen Bereich der Permafrostböden stecken bis zu 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – also fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der Erdatmosphäre befindet.

Je mehr Permafrost auftaut, desto mehr Treibhausgase gelangen in die Atmosphäre. Das führt zu höheren Temperaturen. Wegen der Hitze taut wiederum mehr Permafrost auf. Es ist ein sich selbst verstärkender Effekt, ein Teufelskreis des Klimawandels. Der setzt dem Permafrostboden schon heute ordentlich zu. „Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ist die Grenze in einigen Regionen schon über mehrere Hundert Kilometer Richtung Norden gewandert“, sagt Langer. Das heißt, dass der darunter versteckte Kohlenstoff sich bereits zersetzt.

Der 42-Jährige kennt die Auswirkungen des Tauens nicht nur aus dem Labor. Langer reiste für die Forschung zum Beispiel schon in das über 5.000 Kilometer entfernte Tiksi, das in der autonomen Republik Sacha in Russland liegt. „In Sibirien wurden die Häuser direkt auf die gefrorene Erde gebaut. Durch das Tauen brechen sie jetzt förmlich auseinander“, sagt Langer. Doch nicht nur Häuser, sondern auch Straßen, Pipelines, Bohrinseln und Tanks für Treibstoff sind in Gefahr. Langer: „Wir untersuchen, ab welchem Punkt es kritisch wird.“

Regionale Ökosysteme, wie der Grönländische Eisschild, die Permafrostböden oder die Atlantische Ozeanzirkulation beeinflussen das Klima auf der ganzen Welt. 2022 gelang es der Forschung, neue und wichtige Erkenntnisse zu den sogenannten Kippelementen im Klimasystem zu gewinnen. Deshalb widmet sich die Wissenschaftsseite der taz im Januar der Klimaforschung.

Dafür nutzt sein Team Messdaten aus den Permafrostgebieten. Acht Wis­sen­schaft­le­r:in­nen arbeiten in der Forschungsgruppe „Permarisk“, deren Büro auf dem Telegrafenberg in Potsdam liegt. In fast jedem Zimmer liegen hier verschlossene Taschen mit dem Hinweis „persönliche Ausrüstungsgegenstände“ und Polarkleidung. „Wir entwickeln physikalische Modelle, die das Auftauen des Permafrostes und die Veränderungen in der Landschaft abbilden“, sagt Langer. Um die Modelle mit eigenen Daten zu füttern, reise die Forschungsgruppe aber auch selbst in die Permafrostgebiete wie das russische Tiksi.

Anfang 2022 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass der Permafrost in Skandinavien bereits in den 2040er Jahren verschwindet. Davor ging man davon aus, dass Permafrost zu Skandinavien gehört wie Fjorde und Norwegerpullover. „Das heißt zwar nicht, dass Permafrost in Europa dann gar nicht mehr vorkommt“, sagt Langer, denn es könne sehr tief im Boden doch noch ein Restchen Permafrost geben. Es zeige aber, wie dramatisch die Entwicklung sein werde. Denn kein Permafrost mehr bedeutet: „Es entsteht eine zusätzliche Treibhausfracht.“

„Es entsteht eine zusätzliche Treibhausfracht“

Moritz Langer, Alfred-Wegener-Institut Potsdam

Damit meint der Forscher, dass das Auftauen der Permafrostböden für viele neue Treibhausgase in der Atmosphäre sorgt. Bis Ende des Jahrhunderts könnten allein dadurch mindestens 0,1 Grad Erderwärmung zum menschengemachten Klimawandel hinzukommen. Wenn kein Klimaschutz betrieben wird, sogar 0,3 Grad, meint Langer. Und: „Hört sich wenig an, macht aber einen gewaltigen Unterschied.“

Eine der großen noch unbeantworteten Fragen zum Permafrost ist, wie viele der Treibhausgase, die in der gefrorenen Erde stecken, tatsächlich auch frei werden. Deswegen auch die Laborversuche. Dort simulieren die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen das Auftauen. Sie möchten verstehen, welche Prozesse dabei ablaufen. „Wie viele Teile Methan entstehen dabei, und wie viel Kohlendioxid“, fragt sich etwa Langer. Das sei wichtig, denn Methan erhitze die Erde stärker als Kohlendioxid. „Der Unterschied im Erwärmungspotential liegt bei dem Faktor 24“, erklärt Langer. Bedeutet: Methan trägt vierundzwanzig Mal so stark zum Treibhauseffekt bei.

In der DDR war auf dem Potsdamer Telegrafenberg das Zentralinstitut für Physik der Erde untergebracht, ein außeruniversitäres Forschungsinstitut der Akademie der Wissenschaften der DDR. Das sozialistische Land wollte nicht nur im Sport groß glänzen, sondern auch in der Wissenschaft. Seit 1976 betrieb die DDR die Georg-Forster-Polarstation in der Antarktis, die sich der Erforschung der Atmosphäre und des Ozonlochs widmete. Das betreuende Heimat-Institut war auch auf dem Telegrafenberg untergebracht.

Der Telegrafenberg heißt so, weil Preußen dort 1832 eine Station der ersten optischen Telegrafenlinie nach Koblenz aufbaute. Später wurden auf dem Berg kaiserliche Observatorien errichtet. Nobelpreisträger wie Albert Abraham Michelson oder Albert Einstein arbeiteten dort. Nach der deutschen Wiedervereinigung übernahmen westdeutsche Institute den ostdeutschen Forschungsstandort.

Der Campus auf dem Berg heißt heute Wissenschaftspark Albert Einstein und liefert Spitzenforschung zur Erderwärmung. Neben dem Geoforschungszentrum und dem Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam residiert hier auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Etwa 2.000 Menschen arbeiten hier derzeit.

Im Permafrost sind nicht nur Treibhausgase eingeschlossen, sondern auch sogenannte Pandoraviren. 2015 gelang es einem französischen Team, 30.000 Jahre alte Exemplare der Viren, die in der Wissenschaft als Nucleocytoviricota bekannt sind, aus dem Eis zu bergen und im Labor zu erwecken. Nur ein Jahr später zeigte sich, wie wichtig das war. Im Juli 2016 kletterten die Temperaturen am Polarkreis auf bis zu 35 Grad Celsius. Plötzlich erkrankten Menschen an Milzbrand, einer hochansteckenden Krankheit, die in Sibirien seit 1941 als ausgerottet galt. Russische Experten gehen davon aus, dass Sporen des Bacillus anthracis jahrzehntelang gefroren in vergrabenen Rentierkadavern überlebten, nun aber durch die ungewöhnlich hohen Temperaturen „erweckt“ wurden. Eine Epidemie konnte verhindert werden, weil die dünn besiedelte Region schnell abgeriegelt wurde und die Behörden mehr als 40.000 Rentiere impften. So gelang es, den Übertragungsweg vom Tier zum Mensch zu kappen.

Moritz Langer glaubt jedoch nicht, dass durch Viren oder andere Krankheitserreger im Permafrost neue Probleme für die Menschheit entstehen. Das Milzbrandbakterium sei „in großen Rentierherden schon immer ein Problem gewesen“, sagt der Forscher. Die notgeschlachteten Tiere habe man häufig im Permafrost vergraben. Normalerweise sei aber allen vor Ort bekannt, wo die verseuchten Kadaver begraben seien. Deshalb schätzt Langer die neue Gefahr durch Milzbrand als kontrollierbar ein – ganz im Gegensatz zu der, die durch den Klimawandel entsteht.