Schrottfahrräder in Berlin: Wiedergeburt der Radleichen

Jedes Jahr rosten tausende Fahrräder am Straßenrand ihrem Ende entgegen. Wenn sie Glück haben, schenkt ihnen eine Werkstatt ein zweites Leben.

Mann mit Mütze hebt Fahrrad in einer Garage hoch

Reinkarnation für schrottige Zweiräder ist möglich in der Werkstatt der agens Sozialbetriebe Foto: Claudius Prößer

BERLIN taz | Torsten Rauninger* zuckt mit den Achseln: „Kein einziges mehr da.“ Der Mitarbeiter der agens Sozialbetriebe gGmbH und sein Kollege sind an diesem Freitagmorgen ganz umsonst von Kreuzberg zum S-Bahnhof Pankow gefahren. Hier sollten sie eigentlich ein gutes Dutzend sogenannter Schrottfahrräder einsammeln, die zwei Wochen zuvor mit einer Banderole gekennzeichnet wurden. Jetzt sind sie nicht mehr aufzufinden.

„Das kann jetzt mehrere Gründe haben“, mutmaßt Rauninger. „Entweder jemand hat die Markierungen als eine Art Streich abgerissen“. Oder aber Leute hätten die Räder geknackt – „nach dem Motto: Die will ja eh keiner haben.“ Dass tatsächlich die EigentümerInnen ihre Velos abgeholt haben, hält er für unwahrscheinlich. Schließlich blieben die meisten dieser Fahrzeuge lange völlig unangetastet, viele Teile seien komplett durchgerostet.

Wenn die agens-Leute auf ihrer Einsammeltour fündig werden, geht es im Übrigen ganz schnell: Mit einem Akku-Trennschleifer werden die Schlösser, meist ohnehin keine High-Tech-Ware, innerhalb von Sekunden geöffnet. „Wir tragen Warnwesten und haben ein Dokument dabei, das uns als berechtigt ausweist“, sagt Rauninger. Meist sähen die PassantInnen aber auf Anhieb, dass sie es nicht mit einem geschickt verbrämten Klau zu tun hätten: Nichts von dem, was eingesammelt werde, sei auch nur fahrtüchtig.

Das ändert sich aber: Nach zwei weiteren Wochen Lagerung im zweiten Hinterhof an der Ohlauer Straße sind die Rahmennummern – so vorhanden – von der Polizei auf Diebstahlanzeigen geprüft worden. Nach Freigabe zerlegen die MechanikerInnen der agens-Werkstatt sie in ihre Einzelteile, bereiten diese auf und fügen sie wieder zusammen. Das Ergebnis: funktionale Fahrräder oft gemischten Ursprungs und mit Vintage-Feeling, zu Preisen zwischen 100 und 200 Euro und mit einjähriger Garantie. Weil am Ende des Upcyclings mehr Einzelteile als komplette Räder übrigbleiben, stehen auch Gabeln, Rahmen und sogar kleine Kunstwerke aus Ketten oder Speichen zum Verkauf.

Unerschöpfliches Rohmaterial

„Wir sind auch auf dem Fahrradmarkt an der Oberbaumbrücke präsent“, sagt Leonie Buttgereit von der Geschäftsführung, „da geht vieles weg.“ Die Werkstatt mit dem Verkaufsraum, die auch gebrauchte Fahrräder als Spende annimmt, sei seit Januar in Betrieb, so Buttgereit. Die agens Sozialbetriebe gGmbH, die Langzeitarbeitslose anstellt, um sie zum Sprung in den Arbeitsmarkt zu befähigen, ist berlinweit tätig – die Filiale in der Ohlauer Straße, deren Angestellte auch Parkbänke reparieren oder Wohnungen renovieren, erhält eine gesonderte Förderung durch die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales im Rahmen des Projekts „Soziale Betriebe 2.0“.

Das Rohmaterial für die Fahrradwerkstatt scheint in Berlin fast unerschöpflich zu sein. Gut für die MechanikerInnen, nicht so gut für die Stadt und ihre Radfahrenden, denn Schrotträder oder „Fahrradleichen“ sind stellenweise eine echte Plage. Von ihren BesitzerInnen aufgegeben oder vergessen, müllen sie Abstellbügel zu und nehmen anderen den Raum. Auch das ohnehin prekäre Sicherheitsgefühl in Bezug auf Zweirad-Eigentum nimmt nicht unbedingt zu, wenn man sein Rad zwischen rostige Trümmer klemmen muss, aus deren geplatzten Satteln das Gel quillt.

Die Gründe für das hohe Aufkommen sind unerforscht. Vielleicht ist Bequemlichkeit vieler BerlinerInnen daran schuld, dass sie bei Anschaffung eines neuen, besseren Rads – die Verkaufszahlen erreichen seit Jahren Rekordhöhen – das alte irgendwo seinem Schicksal überlassen. Zumal, wenn man es mit einem oder zwei platten Reifen erst einmal nach Hause oder in die Werkstatt schieben müsste.

Flickenteppich der Zuständigkeit

Bei der Frage, wer sich um die Leichen auf Rädern kümmert, tut sich ein Flickenteppich auf. Im öffentlichen Straßenland sind die bezirklichen Ordnungsämter zuständig, aber auch die handhaben das Problem unterschiedlich. Das in Mitte kooperiert seit einigen Jahren mit der gemeinnützigen Goldnetz GmbH. Deren Projekt „Good Bikes“ sammelt die Räder ein, die das Amt zuvor markiert hat – im laufenden Jahr schon an die 800 Stück –, arbeitet sie nach Möglichkeit auf und gibt sie dann kostenlos ab. In Neukölln – Ausbeute im laufenden Jahr: bislang 500 Stück, nach geringeren Zahlen während der ersten Pandemiejahre – gehen die Räder an Vereine oder wandern auf den Recyclinghof.

Mehrere Bezirke teilten der taz mit, dass ihre Kapazitäten gerade in Coronazeiten kaum ausreichen, um sich des Problems anzunehmen. „Die größte Schwierigkeit ist es, Personal für die Kennzeichnung der Schrotträder bereitzustellen, ebenso wie für die nach zwei Wochen folgende Kontrolle“, sagt Urban Aykal, Stadtrat in Steglitz-Zehlendorf. Derzeit werde man durch Teilnehmende an einer „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ – sogenannte Ein-Euro-Jobber – unterstützt. Und Pankow sucht nach „gemeinnützigen Verwertungsträgern und Entsorgungsunternehmen“, um den derzeitigen Rhythmus von vier bis sechs Sammelaktionen im Jahr zu erhöhen.

Die Räder, die in der agens-Werkstatt landen, stammen von Abstellanlagen an insgesamt 33 Bahnhöfen der DB und ihrer Tochtergesellschaft S-Bahn Berlin. Allerdings werden diese Anlagen von der öffentlichen Hand finanziert und betrieben – deshalb liegt die Zuständigkeit bei der infraVelo, der landeseigenen Gesellschaft für Fahrrad-Infrastruktur, die auch Radstreifen grün färbt und Radschnellwege plant. Sie überträgt die Abwicklung der Aufgabe an die gemeinnützigen Sozialbetriebe.

Noch einmal anders verhält es sich, wenn die Räder auf Bahn- bzw. S-Bahn-Anlagen stehen, die vom Konzern selbst gemanagt werden. Hier macht die DB nach Angaben eines Sprechers kurzen Prozess: „Eindeutig nicht mehr gebrauchstaugliche Räder werden als Abfall behandelt und entsorgt“, teilt dieser auf Anfrage mit. Darum kümmere sich die Hauptwerkstatt der S-Bahn GmbH, sie komme im Jahr auf rund 200 Schrottfahrräder. Kostenpunkt pro Stück: „einschließlich An- und Abfahrt 45 Euro“.

Und die Radparkhäuser?

Hier, an der Schnittstelle von Stadt und Schiene – im Außenbereich wichtiger Bahnhöfe – sollen übrigens schon seit Längerem sichere und wettergeschützte Abstellanlagen für Velos entstehen. Diese Fahrradparkhäuser müssten laut Berliner Mobilitätsgesetz eigentlich bis Mitte 2023 fertig sein, aber Land, Bahn und Bezirke verheddern sich in langwierigen Planungsprozessen: „Leider können zum jetzigen Stand der Projektentwicklung keine Termine für die Inbetriebnahmen genannt werden“, teilt eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Mobilität mit.

Am weitesten sei man beim Fahrradparkhaus für den Bahnhof Ostkreuz vorangekommen. Das Gebäude mit 2.000 Stellplätzen, Schließfächern, Lademöglichkeiten und einer Fahrradwerkstatt wird von der infraVelo auf dem nordwestlichen Vorplatz gebaut. Im 1. Quartal 2024 soll nach einem bis dahin erfolgten Wettbewerb immerhin schon einmal die „Planleistung“ vergeben werden. Davon ist man etwa am Hauptbahnhof noch weit entfernt: Hier laufen zurzeit „Abstimmungen für eine mögliche Machbarkeitsuntersuchung“.

* Name von der Redaktion geändert

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