Fabeln von Günther Anders: Schuld und Strafe in Molussien
Wiederauflage von „Der Blick vom Turm“: Der Literat und Philosoph Günther Anders war ein Meister der Fabel.
Fabeln gehen zurück auf den legendären griechischen Autor Äsop, von dessen Leben außer seinem Werk nichts überliefert ist. Sie sind ein hybrides literarisches Genre zwischen Philosophie und Literatur in erklärter pädagogisch-didaktischer Absicht.
Der Intellektuelle, Literat und Philosoph Günther Anders, der als Günther Stern (1902 bis 1992) geboren wurde, pflegte dieses Genre neben seinen philosophischen politischen, zeit- und medienkritischen Schriften, aus denen die zweibändige Kritik des Atomzeitalters unter dem Titel „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956/80) herausragt. Anders’ Sammlung von rund 100 Fabeln, die zwischen 1931 und 1968 entstanden sind, erschien zuerst 1984 und wurde nun erneut zugänglich gemacht vom Verlag C. H. Beck.
Das zwischen erzählender Prosa und philosophischer Reflexion changierende Genre der Fabel hat Anders zu unbestreitbarer Meisterschaft entwickelt, mit der er Dialoge, Sentenzen, Anekdoten und Aphorismen verbindet. Einige spielen in dem fiktiven Land Molussien, das Anders erfunden hat, um Zustände und Ereignisse im Deutschland Hitlers zu glossieren.
Sie sind literarisch verpackte Aufklärung und offene Faschismuskritik – etwa in dem Stück „Das Mikroskop“, das von einer Gesellschaft handelt, in der alle Einwohner unter einer Krankheit leiden, die jedoch alle verleugnen bis auf einen Forscher, der sich vergeblich um Aufklärung bemüht gegen eine Front von Dunkelmännern.
Günther Anders: „Der Blick vom Turm. Fabeln“. C. H. Beck, München 2022, 159 Seiten, 18 Euro
Eine andere Fabel dreht sich um das Buhlen der Schwestern „Strafe“ und „Schuld“ um das Erstgeburtsrecht beim blinden Schöpfergott Zoa, wobei sich die Strafe zunächst durchsetzt, worauf sich die molussischen Theologen auf die astrein moralische Devise einigen: „Die Schuld folgt der Strafe auf dem Fuße“ – mit der trostreichen Pointe: „Heute (1945!) leben die zwei Schwestern in schönster Eintracht“.
Verrückte Dimensionen
Fabeln leben von überraschend verrückten Dimensionen und plötzlichen Perspektivwechseln, die das Vertraute unvertraut und das Unsichtbare sichtbar oder das Große klein und das Kleine groß machen, verfremden.
Das fiktive Einstellungsgespräch eines Zeitungsredakteurs mit dem Philosophen Zeno etwa dreht sich um die Frage, „ob es wirklich genügt, so wenig zu wissen und so wenig Maßstäbe zu haben, wie man haben muss, um in ihrem Blatte eine Dichtung zu kritisieren; und so wenig Skrupel zu kennen, wie man bei ihnen kennen muss, um einem Mitbürger die Ehre abzuschneiden?“
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