: „Landesparlamente sind ein bisschen näher dran“
Föderalismusforscher Werner Reutter erklärt, warum Landesparlamente einen demokratischen Mehrwert bedeuten – und welche Special Features Niedersachsen hat
Werner Reutter
64, Politikwissenschaftler, lehrt derzeit an der Uni Halle. Zuletzt erschienen sind seine Monografien „Landesverfassungsgerichtsbarkeit“ und „Die deutschen Länder. Eine Einführung“.
Interview Marco Fründt
taz: Herr Reutter, was bringt Föderalismus überhaupt?
Werner Reutter: Der Föderalismus hat beispielsweise eine Laborfunktion. Man kann in den einzelnen Ländern Dinge ausprobieren, die man vielleicht auf zentralstaatlicher Ebene nicht so einfach realisieren kann. In einem Bundesland guckt man dann, wie es läuft und andere Bundesländer können es dann übernehmen.
Und sonst?
Eine andere wichtige Funktion ist die der Gewaltenteilung. Man wollte 1949 nicht nur die übliche Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative, sondern auch in der vertikalen Dimension garantieren, dass es keine Zentralgewalt gibt, die von oben durchregiert. Natürlich hat man deswegen heute auch Probleme, bestimmte Politiken durchzusetzen. Bundesländer können so aber auch Politiken, die auf zentralstaatlicher Ebene beschlossen werden, regional anpassen.
Was sind Nachteile?
Entscheidungsprozesse sind relativ kompliziert. Man hat viele Interessen und unterschiedliche Institutionen, die beteiligt sind. Es ist auch in hohem Maße intransparent, wie Entscheidungen zustande kommen. Da weiß man manchmal nicht so genau, wer eigentlich wo welche Entscheidung getroffen hat. Diese Zurechenbarkeit von Ergebnissen ist aber wichtig für Wahlentscheidungen. Denn die Wählerinnen und Wähler sollten ja wissen, wer an Misserfolgen schuld oder für Erfolge verantwortlich ist. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen heute häufig nur als kleinster gemeinsamer Nenner möglich sind. Da müssen ja alle 17 Beteiligten – die 16 Länder und der Bund und unter Umständen auch die EU – zustimmen.
Wären wir also ohne Föderalismus in der Bekämpfung der Klimakrise weiter als jetzt?
In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gibt es diese föderale Struktur nicht. Ich kann nicht sehen, dass die in diesem Thema weiter sind, als Deutschland. Außerdem möchte ich noch einmal die Labor- oder Innovationsfunktion erwähnen: Kalifornien etwa hat viele Maßnahmen im ökologischen Bereich getroffen, die Washington nicht getroffen hat. Man kann bestimmte Sachen also auf Einzelstaatsebenen realisieren, die man zentralstaatlich nicht umsetzen kann.
Und das sind die Vorteile des Föderalismus?
Die Gewaltenteilung ist nicht zu unterschätzen: Gerade, wo die Demokratie gefährdet ist, sieht man, dass der Bundesstaat eine demokratische Stabilität mit sich bringt, die im Einheitsstaat vielleicht nicht ohne Weiteres gewährleistet ist. Das politische System in den USA beispielsweise ist eine stark gefährdete Demokratie. Und wenn ich mir die Teilsysteme angucke, also Rechtsstaat, Parteiensystem, die sind alle in hohem Maße dysfunktional geworden. Das einzige stabilisierende Moment dort scheint mir der Bundesstaat. Außerdem: Wenn man nicht nur alle vier Jahre wählen kann, sondern auch noch die Landesparlamente, ist das ein demokratischer Mehrwert. Die Landesparlamente sind ein bisschen näher dran an den Problemen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Föderalismus und Wahlbeteiligung?
Ja. Bei den Landtagswahlen ist die Wahlbeteiligung in aller Regel geringer als bei den Bundestagswahlen. Es ist also eher ein negativer Zusammenhang: Die Leute betrachten die Wahlen in den Landesparlamenten als weniger wichtig. Noch schlechter ist die Beteiligung bei den Europawahlen. Aber das ändert nichts an dem Umstand, dass sie trotzdem öfter Gelegenheit haben, zur Wahl zu gehen und öfter Wahlkampf stattfindet, bei dem sich die Abgeordneten dem Votum der Wähler stellen müssen.
Wie kann man Föderalismus erforschen?
Die einen analysieren vor allem die finanzwirtschaftlichen Zusammenhänge, also wie Steuern erhoben und verteilt werden. Andere untersuchen den Zusammenhang zwischen Parteiensystem und Föderalismus. Parteienwettbewerb funktioniert nach anderen Mustern als Föderalismus. Parteien sind wettbewerbsorientiert und konkurrieren um Wähler und Wählerinnen. Der Bundesstaat ist hingegen auf Kompromiss und Konsens angelegt.
Und wie lässt sich das untersuchen?
Das kann man untersuchen, indem man sich anschaut, wie in bestimmten Politikfeldern Entscheidungen zustande kommen.
… also man schaut auf die Ergebnisse der Politik?
Die analysieren wieder andere Forscherinnen und Forscher. Sie fragen danach, wie der Föderalismus sich in unterschiedlichen Politikfeldern niedergeschlagen hat. Denken Sie zum Beispiel an die Coronapandemie. Da wurde immer die Ministerpräsidentenkonferenz zitiert, eine föderale Einrichtung. Man kann untersuchen, welchen Einfluss die hatte: Wie oft haben sie sich getroffen und was haben die beschlossen? Was ist der Status dieser Ministerpräsidentenkonferenz? Und was hat das bedeutet für die Effektivität der Bekämpfung der Pandemie?
Was sind die Besonderheiten der niedersächsischen Verfassung?
Es gibt eine Besonderheit im Bereich der Regierungsbildung. Niedersachsen ist eines der wenigen Bundesländer, in dem die Regierung, wenn sie gewählt ist, zur Amtsübernahme vom Landtag bestätigt werden muss. Normalerweise ist es so, dass der Ministerpräsident gewählt wird und vorschlägt, wen er oder sie als Minister haben will. Die werden dann ernannt. Damit ist die Regierungsbildung erledigt. Das wird dann nicht noch mal vom Parlament bestätigt. In Niedersachsen ist das anders. Diese kleine Besonderheit verleiht dem Landtag eine besondere Bedeutung.
Welche Funktion hat das?
Es soll sicherstellen, dass die Regierung eine ausreichende Mehrheit hat, und bindet die Regierungsbildung zurück an den Landtag. Die Vorgehensweise in anderen Bundesländern führt manchmal dazu, dass die Landtagsfraktionen sich übergangen fühlen. Der Ministerpräsident in Niedersachsen muss darauf schauen, dass er auch die Landtagsfraktionen zufriedenstellt.
Also noch eine Kontrollinstanz?
Es ist keine Kontrollfunktion im klassischen Sinne, aber es ist Teil der Regierungsbildungsfunktion, der sogenannten Kreationsfunktion. Kontrolliert wird also nicht. Da wird einfach noch einmal politischer Einfluss in verfassungsrechtlich vorgesehener Form ausgeübt.
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