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Zum 80. Geburtstag von Günter WallraffJa, guten Morgen, Günter!

Günter Wallraff forscht seit über fünf Jahrzehnten ganz unten. Zu seinem 80. Geburtstag eine persönliche Erinnerung an meinen ehemaligen Vermieter.

Der Kölsche Klüngel mal ganz anders: Günter Wallraff und Du Pham Foto: Michi Weber

Vor einem Haus stehe ich, auf dem groß das Rettungsschiff „Cap Anamur“ gemalt ist, durch ein Tor trete ich in den Innenhof, gehe über die Treppe auf der linken Seite hinein in das Wohngebäude. Es ist so klein und hutzelig, dass ich – klein und hutzelig – mich reflexartig ducke.

Die Maklerin zeigt mir die Wohnung im zweiten Stock; puh, das ist eine Wohnung? Auch ganz schön klein. Und die Küche, die ist nicht hutzelig, sie ist hässlich. Der Dielenboden, die hohe Decke, große Fenster und die Tatsache, dass man auf eine kleine Terrasse klettern kann, überzeugen mich, das Bewerbungsformular auszufüllen.

Die Miete ist nicht günstig, aber wir sind in Köln, wir sind in Ehrenfeld. Zurück bei der Arbeit erhalte ich am selben Tag einen Anruf der Maklerin, mit einer Zusage. Bis zu diesem Anruf wusste ich nicht, dass du – Günter Wallraff – mein Vermieter sein wirst.

Zweiter Bildungsweg

Das ist nun zehn Jahre her, ich war damals fast 30 und studierte auf dem zweiten Bildungsweg „Online-Redakteur“ – wer sich diese Bezeichnung ausgedacht hat, denkt hoffentlich heute noch darüber nach. Es ist kaum möglich, Studierenden journalistische Darstellungsformen näherzubringen, ohne die Grenzen und legendenumwobenen Spielarten des investigativen Journalismus anzuschneiden, die du, Günter, seit über 50 Jahren immer wieder austestest.

Es ist 2012 und das Jahr, in dem ich mein Praxissemester bei der taz machen sollte. Ja, und dieser Journalist, dessen Arbeit darin besteht zu enthüllen, wird zum vermeintlich Aufgedeckten, als ein ehemaliger Mitarbeiter ihm Ausbeutung vorwirft. Jemand, dem es eine Unerlässlichkeit ist, Unrecht aufzudecken und zu desavouieren, soll selbst eine Person zum Niedriglohn schwarz beschäftigt haben.

Ein Mensch, der sich mit größter Hingabe in die Rollen unter seinesgleichen begibt, unter solche, die im Alltag ganz unten sind, soll selbst jemanden nach unten getrieben haben. Einer, ohne dessen Arbeit vieles in diesem Land weiterhin unentdeckt geblieben wäre, wurde demaskiert. War das so? Das weiß man nicht, ich weiß es nicht.

Hans Esser bei der BILD

Mal hast du als Türke „Levent (Ali) Sigirlioğlu“ bei Thyssen gearbeitet, als „Reporter Hans Esser“ dich in die Bild-Zeitung eingeschlichen, Burger bei Fastfoodketten gebraten. Häufig hast du eine Perücke aufgesetzt, einen Bart angeklebt, ebenso häufig wurdest du vor Gericht geladen.

Die Schilderung deiner Erlebnisse mit Rassismus, Ausbeutung und Verachtung haben die deutsche Gesellschaft aufgeschreckt. Als „Verdammter dieser Erde“ hast du Zugehörigkeit und Freundschaft erlebt. Aber moralische Verurteilung blieb in all den Jahrzehnten intensivster Arbeit nicht aus: Deine Darstellung diffamiere Betroffene ausschließlich als Opfer, hieß es, zu reißerisch sei die Schreibe, zu ungehorsam die Methoden.

Zur Unterzeichnung des Mietvertrags lernen wir uns persönlich kennen. Dein Büro ist nur wenige Häuser entfernt. Als wir uns an einen großen Holztisch, umgeben von unzähligen Papierstapeln, hinsetzen, wirkst du ganz hutzelig. Während wir sprechen, piddelst du in irgendwelchen Unterlagen.

Ja, ja, äh, ja.

Und ich merke, dass du gedanklich längst bei einem anderen Thema gelandet bist. „Ja, ja, äh, ja!“ – diese besondere Form der Aneinanderreihung von Jas werde ich noch oft hören. Denn ich bin ganz gut darin, Themen, die nicht meine eigenen sind, zu sortieren. Und so ergab es sich, dass ich dir im Büro aushelfe.

Es dauerte nicht lange, bis ich mit deiner Betriebsamkeit konfrontiert wurde, manchmal wurde ich noch nach Feierabend angerufen, nur um sicherzu­gehen, dass wirklich keine dringende Mail mehr eingegangen sei. Und die vielen Mails, die täglich hereinkamen, sie wurden alle gelesen. Bei manchen Nachrichten habe ich nervöse Zuckungen bekommen, so absurd schienen sie mir. Von dir hingegen wurden sie wertgeschätzt und respektiert.

Ich bin in einem matriarchalen Haushalt aufgewachsen und du warst damals schon – pardon – der alte, weiße Mann. Attribute, auf die ich bei meinem Gegenüber gern verzichte, sei es beim Schuldirektor oder im Umgang mit diversen Chefs. Du konntest ähnlich geckenhaft sein. Bist mir aber auf Augenhöhe begegnet, hast nicht ge-mansplaint und wurdest so intuitiv ein Wegweiser.

Die engsten Gefährten

Ich lernte deine Gefährten kennen, die genauso kämpferisch und gerechtigkeitsliebend sind: den Journalisten und „work-watcher“ Albrecht Kieser und den selbsternannten radikalen Menschenfreund Rupert Neudeck – dessen Porträt im Wohnzimmer meiner Großeltern hängt. Der Drang, sich zu engagieren, eint euch. Und übertrug sich auch auf mich.

Du und deine Freunde, ihr habt mich intensiviert, in dem, was ich heute tue. Als ich bei dir anfing, wollte ich erfolgreiche Autorin werden, über all die Auswüchse der Gesellschaft berichten, wallraffen. Es kam anders, ungewollt. Ich schreibe, ja. Aber nicht vorrangig. Und selten weltbewegend. Engagement findet nicht in der Theorie statt, das habe ich durch dich begriffen. Deine stoische Art, Dinge einfach zu machen – das habe ich im Selbstversuch gemerkt – ist so viel direkter und so viel effektiver.

Erinnerst du dich noch? Als der TV-Sender RTL das Format „Team Wallraff“ gestartet hat, war ich verwundert und fragte dich, ob du damit nicht an Serio­sität einbüßen würdest. In meiner angehenden, arroganten Akademikerblase waren wir uns alle einig, dass Privatfernsehen gar nicht ginge. Du hast mir entgegnet, dass es darum gehe, eine breite Masse zu erreichen, nicht nur Anerkennung von Aka­de­mi­ke­r*in­nen zu ernten. Ja, da habe ich mich ein bisschen geschämt!

Ausschließlich zur Berieselung

Meine Familie nutzt den Fernseher ausschließlich zur Berieselung. Die erste Folge deiner Sendung war kaum zu Ende, da ploppten diverse SMS auf. Ein Teil meiner Familie kann sich mit den Betroffenen aus den versteckten Recherchen identifizieren. Das vermeintlich seichte Primetime-Programm hat sie politisiert – sie fühlten sich gesehen.

Verstehst du, Günter? Ich habe nur kurz bei dir gearbeitet, wir sind, solange ich in der Wohnung gelebt habe, in losem Kontakt geblieben. Ich habe immer wieder Kritik an deinem Schaffen, deinen Methoden, deinen Umgangsformen mitbekommen – und sie hat bestimmt stellenweise ihre Berechtigung. Doch: Deine Arbeit und ihre Resultate sind wesentlich.

Manchmal saß ich auf meiner Terrasse und hörte das Tock-tock vom Aufschlagen des Tisch­tennisballs. Die Tisch­tennisplatte stand in deinem Garten. In der Pandemie habe ich das Spielen gelernt, vielleicht fordere ich dich auf deine alten Tage doch mal heraus. Was meinst du? Ja?

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6 Kommentare

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  • Jrooß us d'r Nohbarschaff"



    Rothehausstr (80er),



    Aus Räuberfeld



    Nach Räuberfeld



    Mit Umwegen auch über den Chlodwigplatz u.a.



    Happy börsday 🏝

  • "En d'r Nohbarschaff"

    Gut beschrieben denn Nahber paar Stroß wigger - in unserm Veedel - Ihrrrenfeld - “türkisch Sektor“.



    & Däh



    Und du kommst - Matte Vollbart Schlägermütze - weil‘s am Räin - mit nem Schuß am Ärm - lautstark begrüßt - beim Alekos rin. Sing Lieblingsgrieche auffe Venne! Und da glubscht dich de knapp drei Johr öllere im Kreis seiner Adlati finster an “Ich - bin hier der Oberlinke!“ & du denkst “Jung. Heste dess neudig? So pepita kleinkariert?!“



    Alekos aber bemerkt die Irritation - stellt Gigantes & Uzo hen! Normal.



    Yamas & Helzrichen Gwücklunsch zum 80.

    unterm—-



    Hochanrechne ich: Unseren gemeinsamem Bekannten/Fründ Ralf Giordano auf den Topf gesetzt zu haben! Als der sich wg DIHTIP-Glashaus vulgo Moschee - der alte Wutbuckel voll vergaloppiert hatte: 🤬🎤 “…nur eine Religionsgemeinschaft…“ - 🙀🥳 - •



    ——



    & sodele - Gerd laß gehn => 🎶🎶🎶🎶



    The Piano Has Been Drinking - "En d'r Nohbarschaff" (Arsch huh 1992, Chlodwigplatz, Köln)



    m.youtube.com/watch?v=1qb7pACrFvg

  • Die ersten Bücher, die ich von Günter Wallraff gelesen habe: "Industriereportagen", "Ihr da oben, wir da unten". Da war ich so um die 15. Sie gaben mir damals das Gefühl, ein "Eingeweihter" zu sein, der hinter die Kulissen menschenverachtender Produktionsbedingungen eines Kapitalismus, der Menschen wie Dreck behandelt, schauen darf. Dieses Wissen hat mein Denken und mein Handeln für ein Leben lang geprägt. Ich bin mir sicher, dass er mit seiner Arbeit unzählige Menschen motiviert hat, es ihm - als einem der ersten Whistleblower - gleichzutun.



    DANKE - und herzlichen Glückwunsch!

  • Ich bin im Osten aufgewachsen.



    Natürlich haben wir in den 80zigern auch" Ganz unten" gelesen. Im Staatsbürgerkundeunterricht wurde das Buch behandelt. Tenor wir Gut - die Böse.



    Interview mit Günter Wallraff (Stimme der DDR 1985)



    www.youtube.com/watch?v=wvlrhP1A1T8



    Gegenfragen zum Journalismus und wie es um die Arbeitsweise der Zeitungs-, Fernseh- und Radiojournalisten in der DDR bestellt ist, gibt es in dem Interview nicht.



    Und er sagt, er habe nie "wissentlich und willentlich" mit der Stasi zusammengearbeitet. Er sei abgeschöpft worden. Hier fehlt noch der gerne gebrauchte Zusatz, ich habe niemanden geschadet.



    ......Es ist Rolf Wagenbreth, der ehemalige Chef der für Desinformation zuständigen Stasi-HVA X, bei der Günter Wallraff jahrelang als IM "Wagner" geführt wurde. Er hört zu, er ist freundlich, er überlegt. Aber dann lächelt Wagenbreth und sagt: "Ich mach's doch nicht Jungs, ich möchte über die alten Zeiten nicht reden." Dann geht er mit seiner Frau zurück ins Haus, dreht sich aber noch einmal um. "Wir hatten viele dieser Wallraffs." Die Tür fällt ins Schloss, und der Regen lässt nach.....



    www.welt.de/politi...anz-unten-mit.html



    Auch das noch - Desinformation...?!

    • @Ringelnatz1:

      Ja. Eines der Desaster des Markus Johannes „Mischa“ Wolf und seiner Firma.



      In der Eile der Implosion hatten sie die Bänder (Maulwürfe IM Schläfer the whole shit;) mit Datenschrott überspielt ehe sie der CIA in die Hände fielen!



      & Däh



      It works! Bis. Ja bis sich ein Berliner meldete - noch mit Klingeldraht;) - & die cleante!



      Als die CIA ihr Herrschaftswissen dann doch rausrückte war Heulen & Zähneklappern! Aber Hallo.



      Einer der größten Trottel war Karl Wienand - die rechte Hand von Onkel Wehner. Der hatte sogar Quittungen fürs Agentensalär unterschrieben!;))



      Da half selbst „…die Hand ins Feuer…“ eines Schmidt-Schnauze nix •



      Ein weites Feld.

      Na Mahlzeit

      • @Lowandorder:

        “Markus Johannes „Mischa“ Wolf (* 19. Januar 1923 in Hechingen; † 9. November 2006 in Berlin) war ein deutscher Leiter des Auslandsnachrichtendienstes der DDR. Er leitete von 1952 bis 1986 die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), den Auslandsnachrichtendienst im Ministerium für Staatssicherheit.“



        de.wikipedia.org/wiki/Markus_Wolf



        &



        “Karl Wienand (* 15. Dezember 1926 in Lindenpütz; † 10. Oktober 2011 in Trier[1]) war ein deutscher Politiker der SPD und Agent des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR.



        de.wikipedia.org/wiki/Karl_Wienand



        “Das Oberlandesgericht Düsseldorf bewertete Wienands DDR-Kontakte erst ab 1976 als strafbar, da er bis dahin ein Mandat für offizielle Gespräche gehabt habe, und verurteilte ihn 1996 wegen Spionage zugunsten der DDR zu zweieinhalb Jahren Haft und einer Geldstrafe in der Höhe der Zahlungen, die Wienand vom MfS erhalten hatte: Eine Million DM.“