kritisch gesehen: Robert Wilsons verknäultes Zeittheater
Die Zeit verläuft nicht linear, sie knäult sich, bildet Schleifen und Knoten. Ein Satz, wie er in diesem Stück stehen könnte: In dieser jüngsten Zusammenarbeit des – Jahrzehntelang zuverlässig als „Starregisseur“ gelabelten – Robert Wilson mit dem zweitgrößten Hamburger Renommiertheater geht es um Zeit und Raum und den Menschen, der bevorzugt am eigenen Ast sägt, schließlich spielt der Titel darauf an, dass das sprichwörtliche „Fünf vor zwölf“ lange vorbei ist auf der Doomsday Clock. Biografischer Stream of Consciousness des Physik-Stars Stephen Hawking trifft da auf Texte von Etel Adnan – kosmisch-philosophische freilich, keine, in denen sie sich wütend äußert über Konkretes wie Kriege im Nahen Osten etwa.
Wer Figuren sucht zur Identifikation, wer allzu Menschliches vorgeführt zu bekommen hofft, echtes Drama, ist hier falsch. Plot gibt es keinen, dafür neun Bilder – drei noch mal dreigeteilte Akte mit jeweils gleicher, steigender Personal- und Ereignisdichte; Visuellem verdanken sie sehr viel mehr als Narrativem. Die Texte permutieren auf musikalische Weise, halten inne, machen Rollen rückwärts, setzen neu an. Apropos: Musik kommt von Wilsons altem Buddy Philip Glass, das Choreografische besorgt mit Lucinda Childs eine langjährige Mitstreiterin.
Ja: Die erkennbare große Ambition droht auch mal ins unfreiwillig Komische zu kippen, die x-te Wiederholung eines Satzfragments kann auf die Nerven gehen. Wilson aber vorwerfen zu wollen, dass er Wilson ist? Dass seine „Szenen von starrer Schönheit tun, als ob sie eine Handlung hätten“, wurde in dieser Zeitung schon 1997 bemängelt, die Zeit, sie knäult und knotet sich.
Konventionell schöne Momente gibt es trotzdem, und manchmal ganz ungeplant. Nach der Premiere holte den inzwischen 81 Jahre alten Wilson die einmal mehr ganz famose Barbara Nüsse, 79, hinterm Thalia-Vorhang hervor, Applaus entgegennehmen (und stehende Ovationen). Wie sie ihn dabei über die Schulter anstrahlte, ganz kurz nur, aus plötzlich ganz alterslosem Gesicht: allermenschlichstes Theater. Alexander Diehl
H – 100 Seconds To Midnight, wieder am 13., 14. + 15. 10., Hamburg, Thalia-Theater
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