Goldener Löwe für Laura Poitras: Filmen für die Toten
Bei den 79. Filmfestspielen von Venedig hat Laura Poitras mit einem Dokumentarfilm über die Fotografin Nan Goldin gewonnen. Eine gute Wahl.
Kunst und Aktivismus gehen nicht immer eine glückliche Verbindung ein. Sie kann für Klassiker mit teils unfreiwilliger Komik sorgen („Sonne statt Reagan“ von Joseph Beuys) oder mindestens fragwürdig ausfallen wie beim Zentrum für politische Schönheit, das Migranten suchte, die sich freiwillig Tigern darbieten wollten („Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“). Manchmal kommt das eine aber fast zwangsläufig zum anderen. Wie im Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ der US-amerikanischen Regisseurin Laura Poitras, der am Sonnabend bei den 79. Internationalen Filmfestspielen mit dem Goldenen Löwen als bester Film ausgezeichnet wurde und in dem Poitras die US-amerikanische Fotokünstlerin Nan Goldin porträtiert.
Bei Nan Goldin gehören Leben und Kunst seit jeher eng zusammen. Sie dokumentierte ihren Alltag wie den ihrer Freunde, machte bei Drogen und Gewalt keine Ausnahme. Dass Goldin, die am eigenen Leib lebensgefährliche Erfahrungen mit Sucht machte, sich als Künstlerin später gegen die Sackler-Familie wenden würde, die als Mäzene in der Kunstwelt viel Geld in Museen gesteckt haben, zugleich jedoch als Industrielle mit dem Vorwurf konfrontiert sind, durch ihr stark abhängig machendes Opioid Oxycontin für ungefähr eine halbe Million Tote verantwortlich zu sein, war da nur konsequent.
Keine Spenden von den Sacklers
Poitras lässt Goldin in ihrem Film über weite Strecken ihre eigenen Arbeiten kommentieren, was in diesem Fall heißt: aus ihrem Leben erzählen. Goldins Fotos laufen dazu als Diashow, so wie sie von ihr selbst ursprünglich als Arbeiten präsentiert wurden. Eine direkte Linie führt im Film vom frühen Suizid ihrer älteren Schwester Barbara, die wegen Unangepasstheit stets Konflikte mit den Eltern hatte und schließlich aufgrund einer falschen Diagnose in psychiatrische Anstalten gesperrt wurde, zu den Aktionen Goldins etwa im Metropolitan Museum of Art. Dort werfen Aktivisten im „Sackler Wing“ des Museums vor dem antiken Tempel von Dendur Pillendosen in einen angelegten Teich, um gegen die Verwendung des Namens Sackler zu protestieren.
Wie der Film festhält, werden diese Aktionen genauso Erfolg haben wie die Aufrufe von Goldins Gruppe an international renommierte Museen, keine Spenden mehr von den Sacklers zu akzeptieren. Das von Poitras dokumentierte Material der Aktionen rahmt dabei die Fotoarbeiten Goldins, was dem Film eine formale Strenge gibt, die lediglich auf den ersten Blick schlicht erscheinen mag: Eine gute Wahl für den Goldenen Löwen bei ansonsten überschaubarer ernstzunehmender Konkurrenz.
Ein verdienter Preis für Blanchett
Ein anderer Favorit des Wettbewerbs, „Tár“ vom US-amerikanischen Regisseur Todd Field, in dem Cate Blanchett eine so selbstbewusste wie strittige Dirigentin spielt, wurde immerhin mit der Coppa Volpi für die beste Schauspielerin bedacht. Für Blanchett ein verdienter Preis, weitere Auszeichnungen wären in dieser ruhigen Meditation über Musik und Macht gleichwohl gerechtfertigt gewesen.
Die Jury hatte stattdessen deutliche Sympathien für „Saint Omer“ von Alice Diop. Für das Spielfilmdebüt der französischen Regisseurin, die bisher als Dokumentarfilmerin in Erscheinung getreten ist, gab es sowohl den Luigi-de-Laurentiis-Preis für den besten Erstlingsfilm als auch den Großen Preis der Jury. Diop erzählt darin von einem Strafprozess gegen eine Frau, die angeklagt ist, ihre Tochter getötet zu haben. Nicht alle Figuren sind gleichermaßen überzeugend gezeichnet, die Inszenierung der Gerichtsszenen gelingt Diop dafür nüchtern und eindringlich.
Flucht aus dem Iran
Mit dem Spezialpreis der Jury für „No Bears“ von Jafar Panahi setzte die Jury ein Zeichen gegen die Inhaftierung des iranischen Filmemachers und seiner gleichfalls vor Kurzem verhafteten Kollegen. Panahi übernimmt darin wieder selbst eine der Hauptrollen, wie in „Drei Gesichter“ von 2018 ist er zudem auf dem Land unterwegs. „No Bears“ spielt auf mehreren Ebenen parallel, da Panahi im Film an einem Film arbeitet, der in Teheran gedreht wird. Von einem Dorf aus führt er am Laptop online Regie, sofern es die Funkverbindung hergibt.
Erneut steuert die Geschichte auf eine Konfrontation von modernem städtischen Leben und ländlicher Tradition zu, in die Panahi als Protagonist verstrickt wird. Zugleich thematisiert er direkt das Thema Flucht aus dem Iran, geht es im Film im Film doch um ein Paar, das mit gestohlenen Pässen die Ausreise plant. Das Publikum der Gala würdigte die Auszeichnung für Panahi mit stehendem Applaus.
Panahi war auch in den Dankesreden seiner Kollegen gegenwärtig. Der italienische Regisseur Luca Guadagnino, dessen dramaturgisch effektive, aber in ihrer Verquickung von Liebe und Schrecken unausgegorene Kannibalenromanze „Bones and All“ den Preis für die beste Regie erhielt, widmete seinen Preis Panahi und dem kurz zuvor inhaftierten Regisseur Mohammad Rasoulof. Laura Poitras weitete den Kreis der Betroffenen und gedachte aller inhaftierten Regisseure.
Kriminalfall mit „Identitätsklau“
Man kann bei den Entscheidungen bemängeln, dass ein herausragender Film wie „Love Life“ des Japaners Kōji Fukada nicht bedacht wurde. Andererseits muss man sich bei diesem Jahrgang insgesamt wundern, wie zahlreich die mauen Filme im Rennen waren. So gab es mit Susanna Nicchiarellis „Chiara“ über Santa Clara, die Gründerin des Ordens der Klarissen, am letzten Tag des Wettbewerbs eine Art italienisches Mittelalter-Musical, das in seiner einfallslosen Gestaltung mit Abstand als langweiligster Film der Auswahl gelten kann.
Interessante Beiträge fanden sich mit ein wenig Glück in den Nebenreihen. In der Reihe „Orizzonti“ etwa ließ der japanische Regisseur Kei Ishikawa mit seinem Spielfilm „Aru otoko“ (A Man) alle Gepflogenheiten des Thrillergenres außer Acht, um von einem Kriminalfall mit „Identitätsklau“ zu erzählen, bei dem es genauso um Wahlverwandtschaft wie um die Aufklärung eines Verbrechens ging. Am Rand baute Ishikawa noch Seitenhiebe auf die Diskriminierung von Koreanern in Japan ein.
Eine Studie über Film noir
In der unabhängigen Reihe „Giornate degli Autori“ gab es wiederum ungewöhnliche Perspektiven auf die Geschichte Algeriens, wie im Kostümfilm „El Akhira. La dernière reine“ von Adila Bendimerad und Damien Ounouri, der die Legende der Königin Zaphira im 16. Jahrhundert erzählt, die das Land gegen den Korsar Arudsch zu verteidigen versuchte. Der kanadische Regisseur Graham Foy steuerte mit „The Maiden“ eine mühelos zwischen Traumlogik und lebensnaher Direktheit wechselnde Coming-of-Age-Geschichte bei, und der marokkanischstämmige britische Regisseur Fyzal Boulifa schickte eine am Rand der Gesellschaft lebende Mutter mit ihrem heranwachsenden Sohn auf eine Odyssee um Anerkennung in Tanger.
Der wohl originellste Film des Festivals fand sich unerwartet in der Reihe „Classici documentari“, war allerdings weniger ein Dokumentarfilm über Filmklassiker als vielmehr eine Studie über Film noir und Zeit: „Ragtag“ des italienischen Experimentalfilmers Giuseppe Boccassini besteht aus Szenen von mehr als 300 Filmen, darunter Klassiker wie Alfred Hitchcocks „Notorious“, Fritz Langs „M“ oder Robert Siodmaks „The Killers“.
Boccassini montiert sein Material nicht bloß aneinander, das, wie der Titel auf Deutsch heißt, „bunt gemischt“ ist, sondern nimmt rags, „Fetzen“, von Filmen und baut daraus zum Teil Schleifen, die den mechanischen Charakter vieler Szenen herausstellen und ad absurdum führen. Ton und Bild sind oft unabhängig voneinander gestaltet, kommentieren einander, ohne etwas zu erklären. Von der Freiheit, die Boccassini sich mit den Bildern nimmt, hätte man sich in diesem Jahr noch mehr gewünscht.
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