doppelblind: Evolution voller Spannung
Charles Darwin war verwirrt, begeistert oder beides: „Es ist unmöglich, zu verstehen, wie diese wundervollen Organe produziert wurden.“ Darwin schrieb diese Zeilen über den Elektroplax, ein aus Muskeln entwickeltes Organ bei Fischen. Mit seiner Hilfe können bestimmte Arten Stromstöße erzeugen. Der in Südamerika lebende Zitteraal beispielsweise nutzt die Stöße zur Verteidigung und zur Jagd. Andere Fischarten nutzen sie zur Orientierung und Kommunikation.
Wie die Fische das machen, ist heute gut erforscht. Bestimmte Muskelzellen im Elektroplax, der sich über den ganzen Körper der Fische zieht, beeinflussen die Konzentration von Natriumionen. Wenn die Fische dann Natriumkanäle in den Membranen dieser Muskelzellen öffnen, entsteht eine elektrische Spannung. Je mehr Muskelzellen sie gleichzeitig einsetzen, desto höher wird die Spannung. Der Zitteraal bringt es auf Stromstöße von bis zu 600 Volt.
Forscher*innen haben inzwischen herausgefunden, wie sich der Elektroplax entwickelt hat. Ein Urfisch hat vor mehr als 320 Millionen Jahren die Verdopplung seines gesamten Genoms überlebt. Das passiert selten, aber öffnet neue Wege für die Evolution, weil plötzlich überflüssige Kopien existieren. Die Vorfahren der heutigen Fische hatten also eine Natriumpumpe zu viel, die für die Funktionsweise der Muskeln wichtig ist. Sie mutierte und half so dabei, dass sich der Elektroplax entwickeln konnte.
Es blieb aber ein Problem: Wenn die Kopie der Natriumpumpe in den Muskelzellen nicht deaktiviert wird, beeinträchtigt der Elektroplax die Bewegung der Fische. Eine Studie im Fachmagazin Science Advances zeigt jetzt, dass die sich parallel entwickelnden Spezies dieses Problem unterschiedlich gelöst haben. Den Muskelzell-Genen der afrikanischen Spezies fehlt zur Aktivierung ein bestimmtes Molekül. Das Natriumpumpen-Gen in den Muskelzellen der meisten südamerikanischen Fischarten ist dagegen inaktiv, weil ein Kontrollelement fehlt, das die Entwicklung der Natriumpumpen im Muskel befördert.
Die Fische haben also alle auf die gleiche Weise ihre Muskelzellen verändert und nutzen die Natriumpumpen in verschiedenen Zellen, aber der genaue Mechanismus ist trotzdem unterschiedlich. Das ist eher ungewöhnlich bei konvergenter Evolution – also wenn Lebewesen ähnliche Organe oder Verhaltensweisen entwickeln, aber nicht miteinander verwandt sind –, weil normalerweise der exakt gleiche Prozess abläuft.
Damit trägt die Studie dazu bei, zwei wichtige Fragen der Evolutionsbiologie zu beantworten: Wie vorhersehbar ist Evolution eigentlich? Und gibt es für bestimmte Entwicklungen nur einen Weg oder mehrere? Darwin wäre sicherlich außer sich vor Freude. Jonas Waack
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen