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Alltag in der UkraineAusgangssperren und Maulbeeren

Kino, Fitnessstudio und der See gehören in der Ukraine noch zum Leben dazu – zumindest zwischen den Sperrstunden. Ein Blick in den Alltag in Kyjiw.

Badende im Wasser des Dnipro in Kyjiw bei Sonnenuntergang – kurz vor der Sperrstunde Foto: David Goldman/AP/dpa

I n einem Witz, der hier im Internet kursiert, heißt es: „Leben, das ist das, was man zwischen zwei Luftalarmen tut.“ Ich würde es anders sagen: Leben, das ist das, was man in der Zeit zwischen zwei Sperrstunden tut. In Kyjiw beginnt sie um 23 Uhr abends und endet um 5 Uhr morgens.

Война и мир – дневник

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Alles, was tagsüber abläuft – wenn wir das mal oberflächlich betrachten – unterscheidet sich praktisch nicht von dem, was vor einem Jahr war. Ich wohne in der Nähe eines Sees und einer Bucht. An beiden Orten ist die Badesaison in vollem Gange. In der Bucht können Katamarane, Kajaks und Boote gemietet werden.

Eines Abends ging ich hinaus, um mich ans Wasser zu setzen. Dort hörte ich folgendes Gespräch: „Es macht dir doch nichts aus, wenn ich die Grenze ein wenig verschiebe? Bitte warne mich vor, wenn du über mich herfallen willst. Aber ich habe eine superstarke Luftabwehr“ – zwei Jungen spielten in ihren Sandburgen.

Sportstudios sind geöffnet. Auch die Kinos haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Ich habe mir „Der schlimmste Mensch der Welt“ von Joachim Trier angesehen. Über eine junge Frau in den Dreißigern, die sich selbst sucht. Vor einem Jahr war dieses Thema auch für mich aktuell. Doch jetzt scheint es mir, als sei dieses ganze Suchen nach sich selbst etwas aus einem vergangenen Leben. Die Prioritäten haben sich geändert. Die Ziele haben sich verengt – darauf, den Krieg zu beenden, unseren Sieg. Für viele ist das tägliche Ziel einfach nur zu überleben.

Olena Makarenko

35 Jahre, Journalistin und Dokumentarfilmerin . Hatte Kyjiw vorübergehend Richtung Westukraine verlassen, lebt aktuell wieder in der ukrainischen Hauptstadt

Übrigens: Ungefähr zehn Zuschauer verließen das Kino, ohne den Film bis zum Ende gesehen zu haben. Das heißt nicht unbedingt, dass er ihnen nicht gefallen hat. Die U-Bahn schließt derzeit früher. Alle müssen jedoch vor der Ausgangssperre ankommen. Diese Regel gilt für alle, auch für Taxifahrer.

Vor der Ausgangssperre kann man jedes Dach, jedes Gebäude betreten. Aber gegen 22 Uhr herrscht Aufbruchstimmung, die Rechnung kommt und man wird höflich gebeten, zu gehen. Das Personal muss ja auch noch nach Hause kommen.

Doch Leute, die dagegen verstoßen, gibt es. Die Kyjiwer Polizei berichtete Ende Juni über das Ergebnis nächtlicher Razzien: 420 kontrollierte Bars und Restaurants, zwei von ihnen arbeiteten während der Ausgangssperre. 219 Vorladungen wurden dem Militärregistrierungs- und Einberufungsamt übergeben. Allerdings führen solche Strafen zu Diskussionen in der Gesellschaft. Das Militär und sogar der Verteidigungsminister sprachen sich dagegen aus. „Denn dem Land zu dienen und das Land zu verteidigen, ist definitiv keine Strafe.“

Inzwischen lerne ich die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Etwa zwanzig Minuten vor Beginn der Ausgangssperre gehe ich hinaus und esse Maulbeeren vom Baum. „Ich genieße hier jede Sekunde. Das ist eine ganz andere Realität“, sagte mir unlängst ein Bekannter. Er ist beim Militär und war für ein paar Tage von der Front nach Kiew gekommen.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung. Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September heraus.

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