: Das Adoptivkind selbst bleibt stumm
Anna Kim beschreibt die „Geschichte eines Kindes“ und stellt die Frage, wie ein aktueller Roman von Rassismus und Zugehörigkeit erzählen kann
Anna Kim: „Geschichte eines Kindes“. Suhrkamp, Berlin 2022. 220 Seiten, 23 Euro
Von Anke Dörsam
Im Juli 1953 wird in Green Bay, einer Stadt mit überwiegend weißer Bevölkerung in Wisconsin, USA, ein Kind zur Adoption freigegeben. Die Mutter ist die alleinstehende 20-jährige Telefonistin Carol Truttmann, deren Vorfahren aus Österreich und aus Deutschland in die USA eingewandert sind. Der Vater ist unbekannt. Das Kind, das den Namen Daniel erhält, entspricht nicht den Vorstellungen, wie ein weißes Kind auszusehen habe, und die Identifikation des Vaters wird als notwendige Bedingung für die weitere Bearbeitung des Falls angesehen: Die Rubrik im Formblatt für die Adoption, welcher „Rasse“ das Kind angehöre, kann deshalb nicht ausgefüllt werden.
Der Roman besteht aus zwei Strängen, einer davon eine Art Aktenbericht der Geschichte dieses Kindes, chronologisch, in oftmals rassistischer Sprache. Er ist typografisch in Schreibmaschinenschrift abgehoben und wechselt sich mit erzählenden Teilen ab. Gerade im zeitlichen Abstand zu den 1950er-Jahren wird deutlich, wie wenig objektiv die vermeintlich neutrale Berichtsprache ist, und wie stark die subjektive Wahrnehmung der verantwortlichen Sozialarbeiterin, der aus Österreich stammenden Marlene Winckler, die im späteren Verlauf des Romans stärker in den Vordergrund rücken wird, die Geschichte des Kindes prägt.
„14. 09. 1953, Telefonat m. Dr. Denys: Der Intelligenzquotient des Kindes wurde gemessen. Der Psychiater stellte zusammenfassend fest, dass dessen IQ mit 120 überdurchschnittlich hoch sei. Für ein endgültiges Ergebnis bat er darum, den zweiten Test abzuwarten. Zur Rasse des Kindes wollte er sich nicht äußern. Dies sei bei Mischlingen oftmals problematisch.“
Der andere Teil erzählt von Franziska, einer österreichischen Autorin mit koreanischem Hintergrund, die während eines Aufenthaltes in Green Bay bei Daniels Frau Joan zur Untermiete wohnt, während Danny selbst wegen eines Schlaganfalls im Krankenhaus liegt. Dieser Teil ist atmosphärisch und poetisch. Er bietet den Resonanzraum in der Gegenwart, und in den Beobachtungen der Erzählerin eine Wärme, die dem kalten Ton der Berichte gegenübersteht.
Beide Teile erzählen von der Stadt Green Bay, von den Vereinigten Staaten in den 1950er-Jahren, dem Druck, der auf Carol als ledige Mutter ausgeübt wird, generell von den Erwartungen ans Muttersein. Frauen, die Kinder gebären, aber keine Mutter sein wollen, durchziehen den Roman. Viele Themen, die aktuell in der Luft liegen, werden in diesem Roman neu erzählt. Care-Arbeit. Herkunft. Die Frage nach Zugehörigkeit, aber auch Rassismus und nicht zuletzt die Frage, wie wir von all dem erzählen.
Der Text macht es sich nicht einfach mit den Fragen, mit denen er sich beschäftigt. Er gibt keine einfachen Antworten, nicht einmal die Fragen sind einfach. Es sind Fragelinien, die sich kreuzen: Herkunft, das Verhältnis vom Menschen und der Kultur, die ihn umgibt und den eigenen, emotionalen Bedürfnissen, wie Nähe und Sicherheit.
Das Kind selbst, Danny, bleibt stumm. Der Bericht fasst nur Außenwahrnehmungen über ihn zusammen. In der Gegenwartshandlung muss er das Sprechen erst mühsam wieder erlernen.
Die Geschichte eines Kindes ist nur auf den ersten Blick die Geschichte des zur Adoption freigegebenen Kindes Danny im Wisconsin der 1950er-Jahre. Es ist die Geschichte der anderen, die mit ihm umgehen, die ihn einordnen wollen, Ähnlichkeiten empfinden, Fremdheiten suchen.
Es ist zugleich auch die Geschichte des Kindes, das die Erzählerin war, ihrer Kindheit als Tochter einer koreanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, ihrer Erfahrungen mit Rassismus, und der Frage nach Zugehörigkeit, wo sie sich fremd fühlt, aber auch, wo sie als Fremde betrachtet wird.
Die Fragen der Vergangenheit um Dannys erste Monate sind auch Fragen der Gegenwart der Erzählerin, ihre Gedanken in dem Moment, in dem sie mehr von Danny erfährt, beschäftigen sich mit Zugehörigkeit und den Abwertungen von Rassismus, vermeintlich neutral festgehalten in den rassistischen Erklärmodellen des Berichts-Teils, für die Leser*innen emotional und atmosphärisch erlebbar dagegen in den Erlebnissen der Erzählerin.
„Wie konnte er glauben, bedingungslos dazuzugehören, ohne Einschränkungen, ohne Auflagen –handelt es sich um Duldung? Oder ist Dazugehören die Belohnung für eine Leistung? Nicht selten erscheint es als reine Willkür, ob man uns einlässt, Danny und mich, und eingelassen werden müssen wir jedes Mal aufs Neue. Honorary White. Ständig müssen wir unsere Loyalität beweisen, unseren Wert, unsere Zugehörigkeit – “
Oft enden Absätze ohne Punkt, schließt sich eine andere Perspektive im nächsten Absatz an. Der Roman verwendet keine neutrale Erzählposition. Vielleicht ist es das Interessanteste an dieser Erzählweise, wie sie mit der Behauptung, alles sei gleich, umgeht.
Das Licht spielt eine große Rolle in diesem Roman, und wie es unterschiedlich auf verschiedene Oberflächen fällt. Große Teile der Gegenwartshandlung, in der die Erzählerin Franziska der Geschichte des adoptierten Kindes, Danny, nachspürt, spielen im Winter. Der Schnee ist eine Metapher des Weißseins, das über allem liegt, und das Franziska als gleichmachendes Zudecken erlebt.
Wie schon in ihren vorigen Romanen wie dem im Jahr 2017 erschienenen Roman „Die große Heimkehr“, erzählt Anna Kim, die 1977 in Südkorea geboren wurde und als Kleinkind erst nach Deutschland, dann nach Österreich kam, das Private und das Politische untrennbar miteinander verknüpft, und mit dem Blick, der Vorannahmen überprüft, letztlich auch von der Kunst des Hinschauens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen