Debatte um Gewalt im Sport: Freiheit und Quälerei
Die Enthüllungen um Missbrauch im Schwimmsport sollten nicht folgenlos bleiben. Das Sportsystem und seine Fördergelder gehören auf den Prüfstand.
E s war eine merkwürdige Szene, die sich da abgespielt hat zu Beginn der European Championships in München. Bei der Auftaktpressekonferenz wurde das Gesicht des ansonsten beinahe so wie die Sonne über dem Olympiaberg strahlenden bayerischen Innenministers Joachim Herrmann ganz ernst.
Er war gefragt worden, welche der neun Sportarten bei der Multi-EM er sich denn aussuchen würde, wenn er als Sportler antreten müsste. Eigentlich eine harmlose Frage. Doch der Minister reagierte stinksauer darauf. Müssen müsse man gar nichts in unserer freiheitlichen Gesellschaft. Diese Zeiten seien vorbei. Jetzt gebe es einen freien Sport, keinen wie früher in der DDR oder der Sowjetunion.
Eine Woche später, nach den Enthüllungen um Missbrauch und Vergewaltigung unter dem Dach des Deutschen Schwimm-Verbands stellt sich die Frage, wie frei Sport überhaupt sein kann. Der Leistungssport, bei dem die Quälerei annerkannter Teil der großén Erfolgsgeschichten ist, steht dabei besonders im Fokus. Die Frage, ob Spitzensport wirklich frei sein kann, steht im Raum. Die Äußerung Herrmanns, der sich selbst stolz als naiven Sportfan inszeniert und in München von Veranstaltung zu Veranstaltung pligert, wirkt am Ende dieser Woche, nur noch peinlich.
Auch all die Stimmen, die angesichts der schönen Bilder aus der Europameisterschaftsstadt München davon träumen, Olympische Spiele nach Deutschland zu holen, müssen sich nach den ARD-Enthüllungen über den Schwimmsport fragen, ob es nicht besser wäre, erst mal grundsätzlich über die Sportstruktur im Lande nachzudenken, als gleich das ganz große Rad zu drehen.
Die Sache mit den Werten
Die Vereinigung Athleten Deutschland, ein von den großen Sportverbänden unabhängiger Zusammenschluss von Sportlern, hat in der EM-Woche eine gesellschaftliche Grundsatzdebatte über Sinn und Zweck der Leistungssportförderung in Deutschland angeregt. Die braucht es wirklich.
Mehr als 370 Millionen Euro gibt der Bund im Jahr für den Leistungssport aus, ermöglicht Kaderathleten über Jobs bei der Bundeswehr, beim Zoll oder der Polizei ein Leben als Profi. Warum eigentlich? Diese Frage wird meist mit der gesellschaftlichen Vorbildrolle von Sportlerinnen begründet. Sie trügen mit ihren Erfolgen dazu bei, über den Sport Werte zu transportieren. Fairness wird da immer genannt.
Manchmal wird das so dargestellt, als sei der Sport die Schule der Demokratie und ein Katalysator für Integration. Kann das wirklich sein? Wird Deutschland ein besseres, freieres Land, wenn seine Athletinnen bei Olympia mehr Medaillen gewinnen?
Wer Kinder in einen Sportverein schickt, erfährt oft genug, dass der Sport auch ganz unten als Träger von Werten versagt. Die sanfteste Soccermum nimmt es oft hin, wenn ihr Süßer vom Fußballtrainer, der Coach im Verein ist, weil er es schon immer war, angebrüllt wird. Der Basketballpapa sagt nichts, wenn sein Kind, fast bis zum Erbrechen zu Linienesprints von einem Hallenende zum anderen aufgefordert wird, weil es drei Minuten zu spät zum Training gekommen ist.
„Spitzenturnen mit Spaß“
Und auch die misstrauischsten Eltern wissen nicht, wohin im Verein, im Verband, in der Kommune sie sich wenden sollen, wenn die Trainerin ihnen verboten hat, bei den Übungseinheiten in der Halle zuzuschauen. Nein, der Sport ist nicht frei. In der Spitze ebensowenig wie an der Basis.
Den Sport so frei wie möglich zu gestalten, das sollte die Aufgabe der Politik sein. Darauf sollte der Fokus der Sportförderung liegen. Leistungssport kann dann immer noch möglich sein. Gerben Wiersma, der Trainer der deutschen Turnerinnen, die bei der EM zweimal Gold und einmal Bronze gewonnen haben, glaubt daran. „Spitzenturnen mit Spaß ist möglich“, meint er. Es wäre doch schön, wenn er wirklich recht hätte.
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