das wird: „Eine ganz ferne Lebensrealität“
Lin Hierses Debütroman verhandelt auch ihre eigene deutsch-chinesische Spurensuche
Lin Hierse
31, geboren in Braunschweig, lebt in Berlin. Seit 2019 ist sie taz-Redakteurin und -Kolumnistin. Ihr Roman ist 2022 bei Piper erschienen (240 S., 18 Euro).
Interview Petra Schellen
taz: Frau Hierse, mit dem Begräbnis der Großmutter beginnt Ihr autofiktionaler Roman – und die Spurensuche der Erzählerin. Hatte sie sich vorher nie mit ihren chinesischen Vorfahren befasst?
Lin Hierse: Doch, aber nicht in dieser Intensität. Die direkte Konfrontation mit dem Leben der Großmutter – und dadurch auch mit dem Leben ihrer Mutter vor deren Emigration nach Deutschland – lösen neue Fragen aus.
Welche Beziehung hatte die Erzählerin zur Großmutter?
Eine gute, aber keine sehr informierte. Sie wusste wenig über deren Leben. Die beiden waren eben Großmutter und Enkelin, so waren die Rollen. Außerdem hatten sie eine Sprachbarriere, weil die in Deutschland aufgewachsene Enkelin Hochchinesisch sprach und den dörflichen Dialekt der Großmutter schwer verstand. Sie konnte also gar nicht so viel fragen. Aber wer weiß, ob sie gefragt hätte als Kind, in den Sommerferien in Shanghai.
Was kam später bei ihren Recherchen heraus?
Sie hat viel über die Vergangenheit ihrer A’bu gelernt, worunter sie sich lange kaum etwas vorstellen konnte. Die Großmutter hatte den sino-japanischen Krieg miterlebt, und auch die Mao-Zeit. In ihrer Kindheit wurden in Teilen Chinas noch die Füße junger Mädchen gebrochen und gebunden. Für die Erzählerin ist so eine Lebensrealität natürlich extrem weit entfernt.
Und wie hat die Mutter der Erzählerin gelebt?
Die Mutter ist in einem China unter Mao aufgewachsen, hat die „Kulturrevolution“ und eine Hungersnot miterlebt. Als sie ungefähr 30 Jahre alt war, entschied sie, nach Deutschland zu gehen, um ein Leben zu führen, das ihrer Vorstellung von Freiheit entsprach.
Haben die Generationen die Migrationserfahrung weitergegeben?
Ja. Die Tochter spürt, dass sie etwas in sich trägt, das schon ihre Mutter trug. Sie sagt an einer Stelle, dass sich die Mutter in ihr Leben, in ihren Körper hineinschreibt. Sie denkt ständig darüber nach, ob sie ihrer Mutter ähnlich ist und inwiefern. Aber es gibt auch eine klare Abgrenzung: Die Tochter ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und kennt nur die Selbstverständlichkeit mehrerer Zuhauses.
Wie verändert sich die Erzählerin durch die Spurensuche?
Sie wird sich sicherer, wer sie eigentlich ist – in einem grundmenschlichen Sinn: Wer war vor mir da, was hat das heute mit meinem Leben zu tun, wie sehr hat es beeinflusst, wer ich bin – oder auch nicht?
Wie äußert sich die Spurensuche im Roman?
Lin Hierse liest aus „Wovon wir träumen“: Do, 11. 8., 18.30 Uhr, Hamburg, Kampnagel/Avantgarten. Der Eintritt ist frei – wie bei allen anderen Terminen der Reihe „Diasporic Echoes“: Während des heute beginnenden Kampnagel-Sommerfestivals finden dort bis zum 27. 8. werktäglich Lesungen und/oder Konzerte statt
Es ist eine innere Reise. Der Roman folgt dem Innenleben der Erzählerin, die sich auf viele kleine Zeitreisen begibt. Sie taucht in Erinnerungen ein, alte Fotos spielen eine Rolle, auch Träume von Orten. Als ich anfing zu schreiben, habe ich mit einzelnen Erinnerungen gearbeitet. Dann habe ich geschaut, wie ich diese Module ineinandergreifen lassen kann, sodass sich daraus ein Erzählstrang entwickelt.
Sind diese Träume von Orten authentisch oder fiktiv?
Beides. Das ist die schöne Fläche, die Träume für das Erzählen aufmachen. Sie greifen einerseits reale Erlebnisse auf, können andererseits ins Phantastische kippen. Wenn Dimensionen von Gegenständen nicht mehr stimmen oder sich der Mond in eine Tischplatte verwandelt.
Ist die Spurensuche mit dem Buch beendet?
Nein, das zeigt sich auch im Aufbau des Romans. Er beginnt mit dem Kapitel „Abschied“ und endet mit dem Kapitel „Anfang“.
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