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Ausgleichende Wissenschaften

Künstlerische Aspekte einer Nachhaltigkeitsstudie und das Koloniale an den Forschungsreisen der Aufklärung: zwei Sonderausstellungen im Göttinger Forum Wissen

Von Bettina Maria Brosowsky

Die 1737 gegründete Georg-August-Universität in Göttingen zählt nicht nur 13 Fakultäten der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften und der Medizin zu ihrem Bestand, sondern auch 43 wissenschaftliche Sammlungen. Darunter sind didaktisch naheliegende, mittlerweile veraltete Anschauungsmaterialien wie Gipsabdrücke antiker Skulpturen, Wachsmoulagen krankhaft veränderter Körperregionen und Hautpartien oder auch ein Fundus der Rechtsmedizin. Neben der allgemeinen Thanatologie möchte dieser die juristische Kategorie des natürlichen und des nicht natürlichen Todes abbilden, so die Selbstdarstellung. Aber dazu gehören auch Konvolute wie ein „Diplomatischer Apparat“ der Philosophischen Fakultät; oder die Zusammenstellung „Symbole des Weiblichen“: figürliche Interpretationen von Frauen als Schwangere, Gebärende oder Mutter. All diese Sammlungen sind über die Stadt verstreut den entsprechenden Instituten angegliedert und wohl kaum von allgemeiner Wahrnehmung gesegnet.

Diesem Defizit möchte seit Juni das „Forum Wissen“ entgegenwirken. Es sieht sich in der Tradition eines Akademischen Museums der Universität sowie einer Nachfolgeinstitution: Das 1878 eröffnete Naturhistorische Museum residierte bis zur Kriegszerstörung in dem Gebäude, das nun die neue Einrichtung beherbergt. Danach diente der Bau, provisorisch wiederhergerichtet, bis 2017 als Zoologisches Institut. Die neue Basisausstellung des Forums versucht auf zwei Etagen den Balanceakt zwischen der seriösen Aufschließung von Kategorien wissenschaftlichen Arbeitens – und Bespaßung.

Wissenschaftskritische Akzente möchten Sonderausstellungen setzen. Zu postkolonialen Perspektiven etwa wird aktuell das Herbarium von Georg Forster (1754–94) ausgelegt. Forster begleitete zusammen mit seinem Vater von 1772 bis 1775 die zweite Weltreise von James Cook und stellte eine große Belegsammlung tropischer Pflanzen zusammen. Sie soll sich auf mindestens 18 internationale Institutionen verteilen, ein Rest ging nach Forsters Tod in eine Auktion und kam als Schenkung nach Göttingen. Forsters Studien und Publikationen folgten den Standards der Botanik, die im 18. Jahrhundert zur Wissenschaft wurde – und überschrieb dabei bewusst das alte Wissen der ozeanischen Gesellschaften, ohne das die Sammlungserträge an ihren Reisestationen gar nicht möglich gewesen wären. Anhand von drei Pflanzenarten wird die Naturforschung der europäischen Aufklärung nun als expansive Politik gelesen: zur hegemonialen Wissensproduktion und ökonomischen Ausbeutung weltweiter Naturressourcen.

Nutzpflanzen und Zwischenkulturen sollen die Biodiversität vergrößern

Eine weitere Sonderschau spiegelt erste Resultate gegenläufiger aktueller Forschungen der Universität in den tropischen Regenwäldern auf Sumatra, Indonesien, wider: Wie anderswo auch mussten dort artenreiche tropische Waldgemeinschaften den Monokulturen der Ölpalmen- und Kautschukplantagen weichen. Beides sind eingeführte Pflanzen, so hat die Ölpalme eine lange Tradition in der afrikanischen Medizin und Küche, kam aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts nach Indonesien. Palmöl ist mittlerweile das weltweit am meisten konsumierte pflanzliche Fett, es findet sich in Crackern, Seife, und Kosmetik, wird auch zu Biotreibstoff verarbeitet. Klar, auch Regionen wie Sumatra wollen von der Nachfrage ökonomisch profitieren, allerdings bislang auf Kosten großer ökologischer Flurschäden.

Als Partnerprojekt der demnächst endenden documenta haben Göttinger Forsche­r:in­nen zusammen mit indonesischen Kol­le­g:in­nen die Provinz Jambi für eine Nachhaltigkeitsstudie auserkoren: In Kombi-Plantagen sollen weitere Nutzpflanzen und Zwischenkulturen angesiedelt werden, um die Biodiversität wieder zu vergrößern. Das Bewusstsein in der Bevölkerung scheint hoch, viele wissen um die Folgen ihres bisherigen Wirtschaftens. Das indonesische Künstlerkollektiv Ruma Budaya Sikukeluang hat ihnen in einem großen Festival namens „semah bumi“ – deutsch: „ausgleichende Aussaat“ – im März die Prinzipien ganzheitlichen Handelns nahegebracht, ein kleiner Teil jedes documenta-Tickets fließt in ihr Agrar- und Sozialprojekt. Ob die Musikerin Rani Jambak als „klagender Adler“ in ihrer Festival-Performance zukünftig weniger zu beklagen hat?

saujana membumi. Nachhaltigkeit erkunden: bis 25. 9.; Tiny unpredictable material objects. Postkoloniale Perspektiven auf Pflanzen im Georg Forster Herbarium (1772–75): bis 14. 10., Göttingen, Forum Wissen

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