Dating mit Sehbehinderung: Lieblingspizzen und bunte Tassen
Sehbehinderte achten bei Dates nicht aufs Aussehen? Von wegen. Wie Dating für blinde Singles verläuft und die Beziehung danach funktioniert.
Sitzen die Haare? Passt das Outfit? Vor einem Date geben sich viele einen letzten Spiegelcheck. Dieser Check bleibt bei Helena Beck (Name von der Redaktion geändert) aus. Dabei macht sich die Mitte 20-jährige Psychologiestudentin gerne schick. Aber ob die Wimperntusche verschmiert ist, kann sie selbst nicht beurteilen. Denn Helena ist blind. „Wenn ich dann wirklich mal ein Feedback brauche, schicke ich meinen Freunden ein Foto“, erklärt sie.
Empfohlener externer Inhalt
Helena hat von Geburt an eine genetische Erkrankung namens Retinitis pigmentosa, eine Netzhautdegeneration, bei der Sehzellen schrittweise absterben. Schon als Kind sah sie nur 60 Prozent. Kurz bevor sie in die erste Klasse kam, wurde es noch weniger. Sie bezeichnet sich selbst als nachtblind und blendempfindlich, außerdem sind Kontraste wie Farben schwer zu unterscheiden. Dazu kommen ihre schlechte Sicht und ein Tunnelblick. Letzteren könne man sich so vorstellen, als schaue man durch eine Klopapierrolle.
Den Alltag bewältigt Helena daher mit einem Blindenstock, abgesehen davon unterscheidet sich ihr Leben nicht groß von dem der Sehenden. Sie geht zur Uni und pflegt seit zwei Jahren ihre Beziehung zu ihrem Freund. Bevor sie ihn kennenlernte, probierte sich Helena sehr viel im Onlinedating aus.
Unter anderem testete sie verschiedene Dating-Apps wie Lovoo, Tinder oder Candidate. Die Apps unterscheiden sich in der Bedienbarkeit: Nicht jede App ist barrierefrei, und wenn sie stärker auf Bilder konzentriert ist, erfährt man als sehbehinderte Person recht wenig über das Gegenüber.
Angst, eine Person mit Sehbehinderung zu daten
Anfangs schrieb Helena in ihr Profil, dass sie blind ist – woraufhin sich prompt die Konversation nur um ihre Blindheit drehten. Das habe sie traurig gemacht. „Wenn ich mich beschreiben müsste, wäre meine Blindheit eines der Merkmale, welches ich vielleicht an fünfter oder sechster Stelle nennen würde“, erzählt Helena. Beim Onlinedating sei es aber immer das erste Thema gewesen.
Irgendwann nahm Helena die Beschreibung raus und erwähnte ihre Sehbehinderung erst, wenn es auf ein Treffen hinauslief. Die meisten hätten wegen ihrer Blindheit keine Berührungsängste gehabt, doch manchmal sei es ihr vorgekommen, als hätten Menschen Angst davor, eine Person mit Sehbehinderung zu daten. „Im Internet hat man nun mal den Vorteil der großen Auswahl. Man hat das Gefühl, es ginge immer noch ein wenig passender. Blindheit gilt da eher als Minuspunkt“, erklärt sie. Denn komme man einmal ins Gespräch, werde automatisch darüber gesprochen, in welchen Situationen Helena Hilfe benötige.
Trotzdem habe sie auch viele schöne Treffen gehabt, erzählt die Studentin. Während sich viele Sehbehinderte in der digitalen Welt an einer Bildbeschreibung orientieren, gibt es eine solche bei Dating-Apps nicht. Das bedeutet, dass sie nicht beurteilen kann, wie ihr Date aussieht – dabei spielt Optik auch für Helena eine wichtige Rolle.
„Nur, weil ich nicht mehr gut sehe, heißt das nicht, dass ich keine Vorlieben habe und keinen Wert auf gewisse Dinge lege“, erklärt sie. Kleine Makel wie Augenringe oder ein Pickel auf der Nase fallen ihr zunächst nicht auf. Merkmale wie Bärte, volles Haar oder Größe seien ihr hingegen wichtig.
Um das herauszufinden, schlägt Helena in ihren Chats vor, ein Spiel zu spielen: Sie stellt eine Frage, er darf eine Frage zurückstellen. So kann sie sich ein Bild von der Person machen – im wörtlichen Sinne. Die erste Frage ist immer die nach der Lieblingspizza, danach stellt sie zunehmend Fragen zum Aussehen. Sehr häufig antworten die Chatpersonen mit: „Das siehst du doch auf meinem Foto.“ Doch Helena erwidert, dass das Foto durchaus mehrere Jahre zurückliegen könnte.
Wenn es zu einem Treffen kommt, achtet die Studentin besonders auf die Stimme der Person. Hohe oder näselnde Stimmen mag sie nicht. „Gerade wenn der visuelle Einfluss entfällt, konzentriert man sich sehr darauf“, erklärt sie. Das sei keineswegs böse gemeint. „Jeder Mensch sortiert bewusst oder unbewusst aus. Da unterscheide ich mich nicht groß von anderen.“
Man muss sich riechen können
Auf den Geruchssinn ist Helena ebenfalls stark fokussiert. Schweißgeruch oder Zigarettenqualm sind beim Date ein No-Go. Um während des Dates nicht in Fettnäpfchen zu treten, sucht sie sich den Ort aus. Dann weiß sie, wo Treppen und Stufen sind, hat also eine gewisse Orientierung und muss nicht fürchten, dass sie hinfällt.
Läuft ein Date sehr schön, kann es auch auf einen One-Night-Stand hinauslaufen: wenn erst nett essen gegangen und dann gemeinsam ein Film geschaut wird beispielsweise. „Der Rest hat sich ergeben“, lacht Helena über ein solches Date.
Dass ein nettes Date, wenn es gut läuft, auch zur Ehe führen kann, zeigen Nicole und Anja Appelmann. Die beiden sind seit 2013 ein Paar und seit 2017 verheiratet. Während des Gesprächs über Zoom sitzen die beiden nebeneinander, immer wieder lachen sie zusammen, ab und zu tätschelt Nicole, die ein gelbes T-Shirt mit Blindenpunkten trägt, ihrer Frau die Schulter.
Kennengelernt haben sie sich über eine Anzeige des Magazins L-Mag, das sich an ein lesbisches Publikum richtet. „Das war am 4. April 2013“, erinnert sich Nicole und meint das Datum, als sie von Anja angeschrieben wurde.
Die beiden erzählen detailgenau aus ihrer Vergangenheit, als sei alles erst gestern passiert. L-Mag war damals noch Print, und Nicole verfasste eine Kontaktanzeige. Als Anja abends mit der Zeitschrift auf dem Sofa sitzt, stolpert sie darüber – und reagiert sofort.
Anschließend folgt ein langes Telefonat, ein paar Tage später treffen sie sich. Es funkt sofort. „Ich fand Anjas Stimme so megaangenehm, so melodisch“, erzählt Nicole. „Die Stimme war sehr wichtig. Danach dachte ich nur: Jetzt bin ich mal gespannt, wie sie so aussieht und wie sie sich so gibt.“
Am Tag des Dates sind sich die beiden nicht nur auf Anhieb sympathisch, sondern tragen auch zufällig das Gleiche: ein kariertes Hemd, eine Jeanshose und einen grünen Gürtel. Heute erkennt Nicole so etwas nicht mehr, denn auch sie ist sehbehindert. Sie habe zur Zeit ihres ersten Dates etwa 50 Prozent gesehen, heute sind es zwischen 10 und 15 Prozent. Nicole hat im linken Auge einen sogenannten Stent, der die Aufgabe hat, das Kammerwasser abfließen zu lassen, damit der Augendruck konstant bleibt.
Denn nachdem sich vor drei Jahren Schmutz im Kammerwasser von Nicoles Auge abgesetzt hatte, entstand eine Zyste. Die platzte, woraufhin der Inhalt ins Innere des Auges lief. Als Anja nach dem Unfall im Krankenhaus ankam, lag dort ihre Frau und sah nichts mehr. „Du kannst dich jetzt auch trennen, wenn du willst“, sagte Nicole damals zu ihr, doch das kam für Anja nicht infrage. „Quatsch“, erwiderte sie, „wir kriegen das schon hin.“
Jeder Gegenstand hat seinen Platz
Inzwischen sind die beiden ein eingespieltes Team. Anfangs wirft Nicole im Haushalt weiße Tassen und Gläser um, weil sie sie nicht erkennt. Seitdem besitzen die Appelmanns ausschließlich bunte Tassen. „Ich kann Farben erkennen, sehe aber alles verschwommen“, beschreibt Nicole ihren Zustand. Man könne sich das vorstellen, als schaue man durch die beschlagene Glasscheibe einer Dusche. „Mal sehe ich etwas mehr, mal weniger, aber immer unscharf.“
Im Haushalt ist daher alles strukturiert, jeder Gegenstand hat seinen Platz. Trotzdem muss Nicole manchmal nach etwas suchen, das Anja versehentlich verlegt hat. Ein Ladekabel zum Beispiel. „Ich finde es dann irgendwann, aber ich sage auch immer, dass sie es dorthin zurücklegen soll, wo es immer liegt. Das macht das Leben ein bisschen einfacher“, sagt Nicole.
Ihre Berufe können beide problemlos ausüben. Anja ist Polizistin, Nicole arbeitet im Kundenmanagement sowie der Retouren- und Garantieabwicklung eines Elektronikherstellers. Ihrem Hobby gehen beide gemeinsam nach, zusammen gründeten sie die Mülheimer Maulwürfe, einen Lauftreff für Sehbehinderte, Blinde und Sehende.
Im Haushalt kümmert sich Anja überwiegend ums Kochen, da sich Nicole mit Schnippelarbeit schwertut. Dafür übernimmt Nicole das Waschen, denn beim Wäscheaufhängen besteht keine Verletzungsgefahr. Zusätzlich haben sie eine Haushaltshilfe, denn wenn Nicole beispielsweise Staub wischt, kommt es vor, dass große Klumpen liegen bleiben. Und die Hilfe entlastet auch Anja. Sie begleitet und fährt Nicole zur ärztlichen Untersuchung, die alle acht bis zwölf Wochen stattfindet.
Anja gibt Nicole Sicherheit, auch beim Ausgehen. Trotzdem kommt es ab und zu vor, dass Anja im Supermarkt oder Kleidergeschäft etwas sieht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht, und dann Nicole prompt stehen lässt.
In solchen Situationen gibt Nicole einen verspielten Piepton von sich – hergeleitet von der Redewendung „Piep, piep, piep, ich hab dich lieb“. Darauf reagiert Anja stets mit einem „Hier bin ich!“, und die beiden können darüber lachen und streiten sich nicht. „Wichtig ist, dass wir gemeinsam fröhlich leben können“, sagt Anja. Es gebe kein Hindernis, das sie aus der Bahn werfen könne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!