: Ein Raum zum Entfalten
Ein Fotograf entdeckt Instagram, eine Fotografin die Bilder ihrer Mutter und ein Vater sucht den unsichtbaren Freund seiner Kinder: Die „Foto-Reflexionen“ in der Kieler Stadtgalerie sind unbedingt sehenswert
Von Frank Keil
Einfach Fotografien gucken, geht das? Gehört nicht alles mit Macht durch den Diskursfleischwolf gedreht? Natürlich und selbstverständlich. Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild. Und andererseits ist da die unverdrossene Sehnsucht nach schönen und eindringlichen Bildern; nach Bildern, die Geschichten erzählen. Wer so gestimmt ist, der wird gerade in der Kieler Stadtgalerie sehr glücklich, wo die siebte Ausgabe des Wettbewerb-Formats „Foto-Reflexionen“ zu sehen ist. Dass man hier sehr entspannt ist, könnte an dem vergleichsweise offenen Teilnahmeverfahren liegen: Mitmachen kann, wer in Schleswig-Holstein lebt und arbeitet oder hier Fotografie oder Verwandtes studiert hat, meist an der Kieler Muthesius Kunsthochschule, und den Kontakt zum Norden nicht verloren hat. Einzureichen ist eine Serie von mindestens sechs und maximal 15 Fotografien (für fotografische Installationen gilt die Mengenangabe nicht). Anschließend setzt sich eine Jury zusammen, wählt aus den anonymisierten Arbeiten aus. Das war es auch schon.
Seit 2001 ist das so; anfangs eine Art praktisches Aufbegehren, als sich zeigte, dass bei den Jahresschauen des schleswig-holsteinischen BBK fotografische Arbeiten und Positionen schnell unter den Tisch fielen, weil sie irgendwie als keine echte Kunst angesehen wurden (das war mal so, man erinnert sich). Alle drei, vier Jahre ist seitdem an wechselnden Kunstorten im Lande eine Auswahl zu sehen – nun eben in der Kieler Stadtgalerie, in deren großzügigen Räumen der viele Platz ist, den Bilder zum Entfalten gerne haben.
Die Ausbeute ist beeindruckend, allein was die Genre-Vielfalt betrifft: Nüchtern-Konzeptionelles löst sich ab mit Privat-Intimem. Es gibt Verrätseltes und Offenkundiges; es gibt die wuchtig-exakten Großbild-Aufnahmen von Theaterbühnen aus aller Welt von Klaus Frahm, es gibt die engagiert-aktivistische Foto-Serie „We See You“ von Angelika Oetker-Kast, die seit Jahren für Tierschutz-NGOs unterwegs ist, den Tiertransporte(r)n auf der Spur.
Und ja: Corona, natürlich. Nicht nur zu erwähnen, weil man das 20-jährige Jubiläum vom vergangenen in dieses Jahr verschieben musste. Sondern, weil für eine Gattung wie die Fotografie der Stillstand und die Bewegung, das An- und Innehalten Herausforderungen sind, die sie in ihrer Konstitution betreffen.
Corona und Isolierzellen
Den Fotografen Andreas Oetker-Kast etwa hat Corona während der gerade gestarteten Tournee des Musikers Johannes Oerding erwischt, für den er regelmäßig fotografiert und ihn also bei seinen Auftritten begleitet. Und nun saß er zu Hause, mit nichts zu tun. Und er ließ die Kamera in der Kameratasche, zückte das Handy und speiste auf Instagram mit „#coronadiary“ ein Foto-Tagebuch ein. Die einfachste und immer noch beste Idee: ein Bild, um den Tag auf einen wesentlichen Moment zu konzentrieren; der liebe, lange Tag liegt vor einem, um irgendwann in einem Bild erfasst zu werden: der Fernseher auf der Anrichte, der Angela Merkels damalige Ansprache zeigt; der Blick in den unverdrossen blühenden Baum vor dem Haus, das im Fenster gespiegelte Selbstporträt des Fotografen mit Zimmerlampe, in der Dämmerung.
Peter Rathmann dagegen ist zeitenspannt in sein Archiv abgetaucht und hat seitdem mit dem Sichten seiner fotografischen Negativ-Schätze nicht aufgehört. Mit „One Way 2.0. – Going up the Country“ zeigt er eine erste Auswahl wunderbarer, quadratischer Stillleben in Schwarz-Weiß aus den ländlichen bis kleinstädtischen USA der 1980er- und 1990er-Jahren, zu denen man Neil Young auflegen muss. Hier ist einer Dank der Gunst der Stunde auf eine Wiederentdeckungsreise gegangen, die noch lange nicht abgeschlossen ist und die viel Gutes verspricht.
Bei dieser Gelegenheit: Auch wenn rund Dreiviertel aller eingereichten und schließlich ausgewählten Arbeiten aus den vergangenen ein, zwei, drei Jahren stammen, setzt sich „Foto-Reflexionen“ nicht unter Aktualitätsdruck. Und so finden auch die eindringlichen Porträts von Häftlingen und ihren Tattoos in DDR-Gefängnissen aus dem Jahr 1989 von Michael Tark ihren Platz, der selbst seinerzeit die Biege machte und in Wedel an der Elbe sesshaft wurde. Dazu passend, als hätten die beiden sich abgesprochen: die fast schon schmerzhaft klaren Architekturaufnahmen von Christoph Edelhoff von frisch erbauten oder renovierten Einzel- und Isolierzellen in Psychiatrien und Haftanstalten, die nun auf die Menschen warten.
„Immer wieder wenn wir ein Bild sehen, macht das auch etwas mit unseren Händen“, sagt wiederum Anke Müffelmann, die man als Keramikerin kennt. Ihre Arbeit „Erinnerungsort für ein Waschweib“ von 2013 zeigt uns das Bild eines Waschbeckens in ihrer damaligen Keramik-Klasse an der Muthesius, das es nicht mehr gibt: per Fotodruck gebannt auf 48 alte Keramikfliesen. Verweis auf die Vergänglichkeit aller Kunst wie Sehnsucht nach dem Haptischen: „Ich bin damit aufgewachsen, dass man Fotos und besonders die Hochglanz-Fotos nicht anfassen durfte.“
Dreck auf Mutters Bilder
So gestimmt entsteht Raum für zwei Serien, die in zu visualisierende Gefühlswelten führen: Der aus Moskau stammende und heute in Kiel lebende Arzt Victor Kataev, der sich an der Berliner Ostkreuzschule fortbildete, nähert sich in seinem melancholisch-eindringlichen Schwarz-Weiß-Zyklus „DAPIO“ dem gleichnamigen unsichtbaren Freund seiner noch kleinen Kinder. Er bekommt diesen Freund zwar nie zu Gesicht, findet aber eindrücklich-magische Bilder, wenn seine Kinder auf ihn treffen – und er außen vor bleibt.
Sonia Brüggemann blickt von einem anderen Ende aus: Sie hat nach dem Tod ihrer Mutter in deren Keller ihr unbekannte Fotos aus deren Leben entdeckt. Ihre daraus sich speisende Serie „Der Krieg in mir“ ist eine konzentriert bildliche Auseinandersetzung mit den transgenerationellen Verwerfungen und Belastungen, mit denen die heutigen Kriegsenkel klarkommen müssen, denen man so wenig berichtet, so wenig erzählt und auch so wenig gezeigt hat. „Ich weiß ja nicht, was passiert ist, und ich habe versucht, je ein Bild dafür zu finden, dass ich nicht weiß, was passiert ist“, sagt sie. Mutters Bilder hat sie deshalb vielfältig bearbeitet, hat sie in Wasser getaucht, hat sie mit Dreck beworfen, um neue Bilder entstehen zu lassen; Fotografien als Material für Fotografie sozusagen. Mittlerweile ist sie neben ihrer Tätigkeit als freie Fotografin auch als Coachin unterwegs.
Und auch Humor hat seinen Platz: Langsam schabt ein Stahlschwamm an einem Draht kreisend über einen Bogen edlen Fotopapiers, das einen Stahlschwamm zeigt. Die Arbeit „Unvorhersehbar“ geht ihren Weg, hinterlässt dabei Spuren. Gerne hätte Jörg Klinner einen solchen Kratzschwamm aus Stahlwolle wie früher in der Drogerie gekauft, musste aber ins Internet ausweichen, um einen zu finden, was ihn schon schmerzte. „Ich habe Kunst studiert und Technik unterrichtet“, sagt er noch, während der Schwamm am Arbeiten ist; geht man zu den nächsten Bildern, schaltet sich die Installation ab und wartet auf kommende Betrachter. So einfach kann es manchmal sein.
„Foto-Reflexionen“: bis 28. 8., Stadtgalerie Kiel
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