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Ukrai­ne­r*in­nen in Berlin„Wir halten den Dialog aufrecht“

Russischsprachigen Ber­li­ne­r*in­nen und Geflüchteten aus der Ukraine hilft der Club Dialog. Ohne Konflikte, sagt Projektleiterin Lenke Simon.

Begehrte Fachkräfte: Auch die Bundesagentur für Arbeit wartet schon am Bahnhof auf die Flüchtlinge Foto: dpa
Interview von Alke Wierth

taz: Frau Simon, der Club Dialog ist die größte und älteste Selbstorganisation von Ber­li­ne­r*in­nen russischer Herkunftssprache, die aus verschiedenen Ländern kommen. Wie steht es um den Dialog angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine?

Lenke Simon: Wir haben als Club Dialog den Krieg bereits am ersten Tag auf unserer Webseite klar verurteilt. Wie arbeiten hier mit 15 Nationalitäten und wollen den Dialog aufrecht erhalten. Wir helfen Menschen, wir führen keine politischen Diskussionen. Und wir haben Erfahrung mit solchen Situationen, durch den Krimkrieg 2014 oder den Konflikt zwischen Russland und Tschetschenien, auch zwei Gruppen, die wir hier in Berlin als Mit­ar­bei­te­r*in­nen und Kli­en­t*in­nen einbinden.

Lenke Simon und der Club Dialog

Lenke Simon, Trainerin für interkulturelle Kompetenzen, leitet das Projekt „FFB – Fahrplan Fachkräftesicherung in Berlin“ beim Club Dialog e.V.

Der Club Dialog gründete sich 1988 in Berlin im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion, als viele russischsprachige Einwanderer nach Berlin kamen. Eine der größten Mi­gran­t*in­nen­selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen Berlins und Teil des IQ-Netzwerks, das Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung bei der Teilhabe am Arbeitsmarkt unterstützt.

Der Club Dialog bietet in vielen Themenfeldern Beratung und Unterstützung – beraten Sie auch ukrainische Geflüchtete?

Ja! Deshalb hat der Verein momentan so viel Arbeit wie nie – wir kommen gar nicht zu politischen Debatten. Wir machen ein Projekt mit Freiwilligen, die die Flüchtlinge direkt am Bahnhof abholen und bei der Verteilung und Registrierung helfen. Das sind überwiegend russischsprachige Menschen, und wir haben nie erlebt, dass es da Konflikte oder Ressentiments vonseiten der Geflüchteten gegeben hat.

Welche Bedarfe haben die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine?

Eine Kollegin hat das kürzlich gut in einem Satz zusammengefasst: Sie wissen nicht, was sie nicht wissen. Wir müssen immer einen Schritt voraus denken. Wie sucht man Arbeit, wie meldet man Kinder zur Schule an – diese ganzen administrativen Wege sind ihnen unbekannt. Dazu kommt, dass die Ukraine bereits stark digitalisiert ist. Es ist für die Geflüchteten oft eine große Überraschung, dass das hier alles mit Termin läuft und mehrere Monate dauert.

Wie werden sie in der russischsprachigen Community hier aufgenommen?

Wir erleben die Community als sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. Unser Projekt für ehrenamtliche Patenschaften für Geflüchtete, „Vitamin P“, wird von beiden Seiten sehr gut angenommen.

Über die ukrainischen Flüchtlinge wird zunehmend auch als begehrte Fachkräfte geredet – wollen denn viele bleiben?

Derzeit möchte etwa die Hälfte nach dem Krieg unbedingt schnell zurück. Wir wissen aber auch, dass sich diese Bleibeabsichten mit der Zeit und der Verbesserung der Deutschkenntnisse ändern können. Es sind viele gut ausgebildete Leute unter den Geflüchteten, viele haben akademische Abschlüsse. Wichtig dabei ist: Es sind zu 85 Prozent Frauen, viele mit pädagogischen oder medizinischen Berufen.

Sie kamen einst selber als Kriegsflüchtling nach Berlin – wie ist die Situation für Sie persönlich?

Ich bin mit 12 Jahren mit meiner Familie aus dem Jugoslawienkrieg hergekommen. Ich beobachte Parallelen, etwa die Feindbildkonstruktion in der Öffentlichkeit – da gibt es gut und böse, damals waren es die Kroaten und die Serben, jetzt sind es die Ukrainer und die Russen. Das sind sehr problematische Zuschreibungen, mit denen ganze Bevölkerungsgruppen unter der Politik ihres Herkunftslandes leiden. Was jetzt besser ist: der schnelle Zugang der Geflüchteten zum Arbeitsmarkt, die Erleichterungen bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Da hat man damals große Fehler gemacht hat, viele der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sind damals weitergewandert – da sind die Fachkräfte vergrault worden, die heute fehlen. Das ist ein bitterer Nachgeschmack für die Generation meiner Eltern. Meine Mutter hätte hier auch gerne in ihrem alten Beruf als Ingenieurin für Brandschutz weiter gearbeitet.

Man hört, dass die ehrenamtliche Hilfe nachlässt – was können Ber­li­ne­r*in­nen für die ukrainischen Geflüchteten Ihrer Meinung nach derzeit sinnvollerweise tun?

Es sind einige ehrenamtliche Angebote in Regelstrukturen überführt worden, im Herbst starten viele Projekte zur Arbeitsmarktintegration, das ist gut. Aber: Alltägliche Hilfen, persönliche Zuwendung können Regelstrukturen nicht leisten. Es ist deshalb wichtig, Geflüchtete weiter etwa mit Patenschaften zu unterstützen.

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