Unabhängige Raumfahrt

Der britische Produzent Kode9 verarbeitet in seinem Videospiel-Konzeptalbum „Escapology“ die Friktionen nach dem Brexit

Steve Goodman Foto: LEADI

Von Julian Weber

Eine bessere Zukunft ist möglich. Eine Zukunft, in der der Geschichte Gerechtigkeit widerfährt. Zumindest ist das so, wenn der britische Elektronikproduzent Kode9 (Steve Goodman) einen Blick auf morgen wirft, ein Morgen, an dem es kräftig rumpelt; das suggerieren immer neue Level einer VR-Looping-Spieloberfläche des Computerspiels „Astro-Darien“, dessen Klangkulisse Kode9 nun musikalisch in seinem neuen Album „Escapology“ kartografiert hat.

Goodman ist ein Multi­checker. Mit seinem Label Hyperdub hat der britische Künstler seit der Jahrtausendwende Dancefloorsound von Drum’n’Bass erst weiter zum Dubstep geführt und von dort aus in eine stilistisch offenere, basslastige Klangatmosphäre. Inzwischen beherbergt das Label auch Footwork aus Chicago, Remixe von japanischen Videospielen und das breite Spektrum der progressiven britischen Tüftlerbrigade von Lee Gamble bis Ikonika. Im Londoner Club „Corsica Studios“ veranstaltet Goodman seit 2017 regelmäßig die hochgelobte DJ- und Performance-Reihe „Ø“, auch sie bietet der losen Szene zwischen Dancefloor, Kunst und Den­ke­r:in­nen­stirn ein Versuchsfeld, wie es das im totkommerzialisierten London kaum noch gibt.

„Astro-Darien“, das Videospiel, existiert bis jetzt allerdings nur in Goodmans Vorstellung, obwohl einige Illustrationen in den Corsica Studios als Installationen dienen. Im Oktober wird der Produzent „Astro-Darien“ als Hörspiel veröffentlichen: eingesprochen von Stimmen, die durch künstliche Intelligenz zum schottischen Akzent animiert sind. Goodman selbst ist in Glasgow aufgewachsen, er lebt seit 1997 in London, wo er zeitweilig an der Universität als Dozent gearbeitet hat. Sein neues Album „Escapology“ bringt alle Pole zusammen, spekulative Sci-Fi mit neuester Technologie, spektakelnde Musik mit Virtual Reality, Dancefloor mit Raumfahrt.

Selbst wenn unklar bleibt, ob das Raumschiff Schottland verlässt, die Musik fliegt der Zeit voraus

Deren Urheber ist eine fikt­io­nale, der schottischen Games-Firma Rockstar North täuschend ähnelnde Klitsche namens „Trancestar North“. Anders als der Rockstar-North-Evergreen „Grand Theft Auto“ mit seinem US-Großstadtsetting spielt „Astro-Darien“ allerdings im schottischen Hochland, dort ist ein Raketenbahnhof. In einer Post-Brexit-Welt soll von dort eine Kolonie im Weltraum gelauncht werden, um ein neues Habitat für die Entwurzelten des auseinanderfallenden United Kingdom zu schaffen.

Eine bessere Zukunft ist möglich. Das glaubten auch 1.200 Passagiere, die 1698 in einer aus fünf Schiffen bestehenden schottischen Flotte über den Atlantik segelten. Mit großen Hoffnungen waren sie an der panamaischen Küste gelandet, um im Darién-Urwald die Kolonie „New Caledonia“ zu gründen mit der Hauptstadt „New Edinburgh“, um einen Handelsposten zwischen Pazifik und Atlantik zu schaffen. Nachschub- und Kommunikationsprobleme, extreme Luftfeuchtigkeit und eine Malaria­mückenplage führten das „Darién-Projekt“ ins Verderben: Im Jahr 1700 ergaben sich die wenigen von Aufzehrung verschonten Überlebenden schließlich den spanischen Kolonisatoren. Die scheinbar unbedeutende Episode der schottischen Kolonialgeschichte führte in der Heimat zu schwerwiegenden Folgen. Schottland geriet an den Rand der Staatspleite, sie konnte zwar abgewendet werden, beendete aber letztendlich die Unabhängigkeit, es kam 1707 – nicht ganz freiwillig – zur Union mit dem Vereinigten Königreich.

„Trancestar North presents Astro-Darien“, mit dieser Anmoderation beginnt „Escapology“. Auf der Tonspur beginnt ein tumultuöses und packendes Actionspektakel. Von Maschinenlärm-Jazz in Überschallgeschwindigkeit über blubbernde Körperfressersounds bis zu die Schwerkraft außer Kraft setzenden Breakbeats: Kode9-Sound klingt beständig so, als sei er jenseits der Überwältigung noch in einem Windkanal von Geschichte gebeutelt. Selbst wenn unklar bleibt, ob das Raumschiff Schottland überhaupt verlässt, die Musik fliegt der Zeit voraus. „Astro-Darien ist meine mythische Linse, mit der ich das Ende des Vereinigten Königreichs anvisiere, inklusive aller Gefahren, die darin lauern“, erzählt Kode9. „Das Setting hat zwar Science-Fiction-Potenzial, und doch arbeite ich Merkmale der aktuellen britischen Malaise nach dem Brexit mit ein und die Verwerfungen, die die fragwürdige Entscheidung in der Gesellschaft ausgelöst hat. Für mich hat der Brexit positive Dimensionen, die schottische Unabhängigkeit ist ein Ausweg aus der Sackgasse von britischem Nationalismus und lässt dessen selbst­zerstörerische Tendenzen hinter sich.“

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat ein neues Referendum über die Unabhängigkeit von Großbritannien angekündigt. Unterhaus-Oppositionsführer Keir Starmer hat wiederum einen Strategiewechsel seiner britischen Labour-Partei verkündet: Sie soll den Brexit zu Ende führen und verzichte daher auf ein erneutes Votum. Und das obwohl Tory-Premier Boris Johnson auch am Brexit gescheitert ist. Großbritannien ist tief gespalten. „The Break Up“ heißt einer der flirrenden, sausenden, ungut rumorenden Tracks. Kode9 bringt ihn zum Rotieren durch konstant hohes Tempo, haarsträubende Breaks und Störgeräusche, wie sie durch Alarmanlagen, Warnsignale und Martinshörner unsere durchgetaktete Alltagswelt unterbrechen. Kode9 lässt diese Geräusche freidrehen, bis sie Eigenleben entwickeln und ein Gruselklangkabinett entsteht, das zu hören Angstlust bereitet.

Spieloberfläche für „Astro-Darien“

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy erkannte im Rhythmus „die Erschütterungen der Zeit“, was wiederum zu Steve Goodmans Spielidee passt: „Die Primärfunktion meiner Musik markiert die Level: von Desintegration zum Straucheln, von Flucht zum Neuanfang im Weltraum, aber die Beats kollidieren mit der Spielearchitektur. Der Vibe der Musik ist vergleichbar mit dem Kitzel beim Fallschirmspringen. Meine Rhythmen fangen die HörerInnen im freien Fall auf, bremsen den bodenlosen Sturz ab wie ein Fallschirm.“ Tanzen zu Kode9-Musik ist schwierig, nervöses Zucken geht.

Im Track „In the Shadow of Ben Hope“ ist tatsächlich ein Countdown zu hören, eine Rakete hebt ab. Bei Schottland denkt Otto Kontinentaleuropa-Verbraucher eher an Harry-Potter-Gotik als an Hochtechnologie, dabei arbeitet das Land an einem Raumfahrtprogramm. „Ben Hope ist der Name des höchsten Berges an der Nordküste. Nebenan im Hochmoor wird die Raketenbasis Sutherland gebaut, von wo aus Satelliten ins All geschickt werden sollen. Im Videospiel ist es Ausgangspunkt für einen Exodus.“ Im Norden Schottlands hat Goodman Fotos, Filme und Fieldrecordings aufgenommen, auch, um das für die Tonspur einzufangen, was der französische Komponist François Bayle als „akustische Totalität“ bezeichnet hat: alle Geräusche, die das menschliche Ohr ortet. Steve Goodman erklärt, sein Forscher-Ego sei eher an „Klang als Waffe“ interessiert und sein Künstler-Alias Kode9 an „Klang als Erregungsapparat“, beide Ebenen kollidieren in der Musik von „Escapology“. Das sollte man unbedingt gehört haben.

Kode9: „Escapology“ (Hyperdub/Cargo)