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Eine Frage der Perspektive

Wir sehen, was wir sehen wollen: In seinem Spielfilm „Der menschliche Faktor“ zeigt Ronny Trocker, wie unsere Gefühle unseren Blick auf die Realität trüben

Den jeweiligen Eigenheiten angepasst: Kameramann Klemens Hufnagl verpasst allen ProtagonistInnen ganz eigene Blickwinkel Foto: Klemens Hufnagl/ Zischlermann Filmproduktion

Von Wilfried Hippen

Zorro ist der Einzige, der den Durchblick hat. Denn Zorro ist eine Ratte. Die Menschen, so die These vom „menschlichen Faktor“, nach dem Ronny Trocker seinen zweiten Spielfilm (nach „Der Einsiedler“) benannt hat, interpretieren das, was sie sehen, sofort, damit es ihrem eigenen Bild der Realität entspricht. Jeder und jede von uns baut sich so ständig seine oder ihre Wirklichkeit. Das ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch das Thema von Trockers Film.

Zorro ist das Haustier von Max, dem etwa achtjährigen Sohn von Jan und Nina, die mit zwei Kindern (Tochter Emma pubertiert gerade heftigst) und viel gut bezahlter Arbeit in der eigenen Werbeagentur so etwas wie eine europäische Modellfamilie repräsentieren, denn Nina ist Französin und die Familie wechselt ständig zwischen Französisch und Deutsch hin und her.

Um eine Vertrauenskrise zwischen den beiden Erwachsenen zu kitten, fahren die fünf (wenn man Zorro mitzählt) für ein Wochenende in das Ferienhaus der Familie an die belgische Küste, und dort passiert gleich nach der Ankunft jenes Ereignis, das alle Menschen unterschiedlich erleben und bewerten.

Es scheint so, als seien Eindringlinge im Haus gewesen. Es gibt Hilferufe, eine Tür knallt, Nina hat sich gestoßen und blutet im Gesicht. Aber niemand hat die Täter gesehen. Vielleicht hat ja nur ein Windzug die Tür zugeschlagen? Und warum glaubt Max, sein Vater habe Angst gehabt und sich versteckt?

Der Film erzählt aus verschiedenen Perspektiven von diesem Vorkommnis – aber auch von der Vor- und Nachgeschichte in Hamburg, wo die Familie lebt. Zuerst wird nur aus dem Blickwinkel von Jan erzählt, und dieser erste Akt wirkt wie eine Exposition, in der die Grundregeln der Versuchsanordnung etabliert werden.

Nachdem diese Version durchgespielt wird, springt der Film wieder zurück zu einem neuen Beginn (von Rückblende kann da kaum noch die Rede sein) und wir sehen alles noch einmal mit den Augen von Max. Und zwar aus einer niedrigeren Kameraposition, die der Körpergröße des Kindes entspricht.

Der Kameramann Klemens Hufnagl hat sich große Mühe dabei gegeben, seine Bilder den Eigenheiten der einzelnen ProtagonistInnen anzupassen. Bei den Erwachsenen ist die Kamera statischer, bei den Jugendlichen wurde mehr mit der Handkamera gedreht und bei der Ratte musste Hufnagl auf dem Boden herumkriechen. Ja, auch Zorro bekommt seinen kleinen eigenen Akt, und der ist mehr als eine Pointe, sondern bietet (fast ein wenig altmodisch) schließlich die objektive Realität.

Nun gibt es in der Filmgeschichte schon solch ein Vexierspiel mit subjektiven Wahrheiten. Akira Kurosawa erzählte 1950 in seinem Spielfilm ­„Rashomon“ aus den Perspektiven verschiedener Beteiligter von einem Verbrechen. Hier wurde bei jeder neuen Version zeitlich wieder zum Anfang zurückgesprungen.

Bei Erwachsenen ist die Kamera statischer, bei Jugendlichen drehte Hufnagel mehr mit der Handkamera

Aber Trocker ist so klug, diesen „Murmeltiereffekt“ zu vermeiden. Es sollte nicht „langweilig“ werden, sagte er bei der Hamburger Premiere des Films am Dienstag im Zeise-Kino. Man kann auch sagen, dass er die Intelligenz der Zu­schaue­r*in­nen nicht unterschätzte, denn wenn diese erst einmal die Mechanik seiner Dramaturgie verstanden haben, kann er deren Stützpfeiler auch weglassen, ohne dass sein Erzählgebäude zusammenbricht.

Also springt er mitten in der Geschichte von Max in eine andere Zeit und Perspektive. So erzeugt er zusätzliche Spannung, denn von nun an muss das Publikum sich bei jeder Einstellung fragen, wann und mit wem man da eigentlich was sieht. Dabei wird aber nichts unnötig verrätselt und man bekommt auch nie den Eindruck, dass da ein Regisseur seine Filmkunst ins Kraut schießen lässt. Er habe erreichen wollen, sagt Trocker, dass es schließlich „egal sei, wann etwas passiert ist“, denn es gehe vor allem um die Empfindungen der Menschen und deren daraus resultierende Fehlbarkeit.

Ursprünglich sollte der Film übrigens „Zorro“ heißen und so aus der Ratte den Titelhelden machen. Erst als der Film fast fertig war und für die Weltpremiere zum renommierten Sundance-Film-Festival in Utah eingeladen wurde, fiel der Produzentin Susanne Mann auf, dass es ja noch andere Filme mit diesem Titel gibt und Disney die Namensrechte hat. Es hätte also teuren juristischen Ärger geben können und so musste schnell eine Alternative her.

„Der menschliche Faktor“ ist nun wohl der bessere Titel, aber auch er ist genau genommen geklaut: Otto Preminger verfilmte 1979 den Roman „The Human Factor“ von Graham Greene und der deutsche Verleiher übersetzte den Titel wortgetreu. In Utah lief der Film dann unter dem Titel „Human Factors“. Gut geschummelt!

„Der menschliche Faktor“: D/I/DK 2021, Regie: Ronny Trocker, mit Mark Waschke, Sabine Timoteo, Jule Hermann u. a., 102 Minuten; ab heute in den Kinos

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