: „Ausgrenzung ist im System der Hilfe mitgedacht“
Die Historikerin Christiane Rothmaler führt über das Gelände des einstigen Versorgungsheims in Hamburg-Farmsen
Christiane Rothmaler
ist Historikerin, Medizinerin und Mitglied in der „Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes in Hamburg e. V.“.
Interview Frank Keil
taz: Frau Rothmaler, was ist ein Versorgungsheim?
Christiane Rothmaler: Es ist eine Einrichtung, die Menschen verschiedenster Gruppierungen versorgt. Alle Versorgungsheime gehörten zu den sogenannten Wohlfahrtsanstalten, sie entwickelten sich aus den Armenhäusern. Diese Einrichtungen, die sich um die Wanderer, um die Obdachlosen, um die Alkoholkranken, aber auch um die armen und gebrechlichen Menschen kümmerten, wurden an den Rändern der Städte eingerichtet. Man wollte sie nicht so gerne in der Innenstadt haben. Das Versorgungsheim in Farmsen war das größte in Hamburg. Es gestaltete sich dann immer mehr aus, dass der Arbeitszwang als Disziplinierungsmittel eingeführt wurde.
Man separierte die Menschen?
Die Alten und Gebrechlichen, auch die Kleinrentner lebten auf ihren Stationen, sie konnten sich frei bewegen. Die Ungehorsamen aber und die nicht zu Disziplinierenden, die Faulen, wie man sagte, die kamen in die sogenannten festen Häuser.
Es gab verschiedene Klassen?
Der Gedanke der Ausgrenzung ist kein Gedanke des 20. Jahrhunderts oder gar der Nazis. Er ist im System der Hilfe mitgedacht und hat sich in der Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 niedergeschlagen: Die Hilfe wurde nicht einfach so geleistet – sie musste auch verdient sein und sie musste verdient werden. Das zog zwangsläufig Kontrolle nach sich.
Das Versorgungsheim Farmsen wurde ein eigener Ort im Stadtteil?
Das Gelände, auf dem die Gebäude standen, war mit einem Maschendrahtzaun umgeben, auch mit Stacheldraht bewehrt. Es gab Tore, versehen mit Wachhäusern, sodass man nicht so einfach raus konnte. Sogenannte Arbeitskolonnen gingen unter Bewachung zum Arbeiten in die Landwirtschaft oder später in die Industrie, etwa in die Spinnereien oder sie wurden während des Zweiten Weltkriegs an die Munitionsfabriken ausgeliehen. Für Wohlverhalten wurde man belohnt, man bekam Freigang, man verdiente ein wenig mehr Geld. War man widerständig, wurde einem das Geld entzogen, bis dahin, dass man in Dunkelhaft kam. Die Keller dafür gibt es heute noch auf dem Gelände.
1933 radikalisierte sich das System?
Als der Präsident der Hamburger Strafvollzugbehörde 1933 das Gefängnis Fuhlsbüttel übernahm, sagte er: „Dies Haus muss ein Haus des Schreckens werden!“ Und das galt auch für Farmsen: Das System radikalisierte sich bis hin zu Prügelstrafe und Nahrungsentzug. Es kam später zu einem Hungersterben in Farmsen, die Insassen galten als nicht so viel wert, dass sie ausreichend ernährt wurden. Man hat sie nicht gezielt verhungern lassen, wie es anderenorts geschah, aber man hat die Rationen herabgesetzt.
Was geschah nach 1945?
Rundgang durch das ehemalige Versorgungsheim Farmsen: Sa, 25. 6., 15–17 Uhr, mit Christiane Rothmaler. Treffpunkt: Pflegezentrum Farmsen, August-Krogmann-Straße 100, Haupteingang
Das Personal, auch das leitende Personal, ist abgesehen von Einzelnen so verblieben und hat seine Arbeit fortgesetzt. Die Entmündigten, die sogenannten Arbeitsscheuen, die Prostituierten oder wen man dafür hielt, wurden nicht entlassen. Man sollte es nicht glauben, aber viele blieben bis in die 1960er-Jahre in Farmsen, auch mit Zustimmung der Hamburger Politik. Man behielt das System einfach bei.
Warum ist das Farmsener Versorgungsheim so unbekannt?
Man hat sich für die sogenannten vergessenen Opfer lange nicht interessiert. In der älteren, örtlichen Bevölkerung war diffus bekannt, da wohnen diese komischen Leute, diese Arbeitsscheuen, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Aber das dahinter ein System stand, das war ihnen meist nicht klar. Die jungen Farmsener, die sehen diese wunderbaren Backsteinbauten und sagen: Es ist alles so schön, so grün drumherum, da könnte man doch was daraus machen!.
Sie machen einen Rundgang über das Gelände. Was ist zu sehen?
Gott sei dank sind die Gebäude nicht abgerissen worden, sie stehen mittlerweile unter Denkmalschutz. Es stehen die Wohnhäuser, es steht der berühmte Wasserturm, das Zentrum des Geländes. Dann gibt es in unmittelbarer Nähe das Waschhaus und ein großes Backsteingebäude, das ist das ehemalige Verwaltungsgebäude. Es gibt eine große Hauptstraße, es gibt eine Querachse mit vielen Nebenstraßen. Und nun soll hier ein Gedenk- und Lernort entstehen.
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