piwik no script img

kritisch gesehenVerläppert im Gruppensex

Nähe war im Laufe der Coronajahre zu einem brisanten Begriff geworden. Man nahm sich vor, krasse Sachen machen zu wollen, wie etwa den Essay „Noli Me Tangere“ des Philosophen Jean-Luc Nancy endlich mal zu lesen – der lateinische Spruch bedeutet „Rühr mich nicht an“ und wird in der Bibel dem seinem Grab entschlüpften Jesus in den Mund gelegt. Jetzt hat in Bremen Choreografin Faye Driscoll, in der freien Tanzszene der USA ein Star, mit der örtlichen Kompagnie „Unusual Symptoms“ eine Performance produziert, die „unseren gegenwärtigen Zugang zu Nähe und Distanz“ hinterfragen sollte. So recht gefunden hat sie ihn nicht.

Das Stück trägt den Titel „Calving“, also „kalbend“, und damit wird im Englischen genau wie im Deutschen der Gebärvorgang bei Paarhufern und Meeressäugern sowie, metaphorisch, das Abbrechen größerer Brocken von Gletschern bezeichnet. Spielt aber keine Rolle: Der Dramaturg erweitert das Spektrum im Programmflyertext auf alle Dinge, von denen er raunt, dass sie zu groß wären, „als dass wir sie begreifen könnten“. Für ihn sind das „das Anthropozän, Styropor, der Kapitalismus“. Nun ja. Klingt vielleicht arrogant, aber persönlich fühle ich mich durch Styropor nicht überfordert.

In diese ungute Beliebigkeit mündet die Produktion tatsächlich, nachdem sie sehr schön und fokussiert begonnen hatte: Summend, gehüllt in Dunkelheit und in ein Massagesalon-Soundcape waren die sechs Tän­ze­r*in­nen Aaron Samuel Davis, Gabrio Gabrielli, Alexandra Llorens, Nora Ronge, Andor Rusu und Young-Won Song eingezogen ins Zentrum des Raums. Als von vier Seiten einsehbare Bühne haben dort Nick Vaughan und Jake Margolin ein quadratisches Boxspringbett ohne Rückenteil hingestellt, auf Rollen, sodass es sich drehen lässt. Auf den naturweißen Matratzen bilden die Per­for­me­r*in­nen plus eine liegende Statistin ein Knäuel, das sich in die Höhe schraubt, wie ein Hexensabbat in Zeitlupe oder die Schiffbrüchigen auf dem „Radeau de la Méduse“. Die extreme Langsamkeit, mit der die Überdehnungen und Verknotungen sich in neue Figuren verwandeln, schmerzt und mit ihr könnten, während die Bühnendrehung die Perspektiven vermehrt, die Bilder in existentieller Wucht nahe rücken.

Aber wer will das schon. Stattdessen verläppert sich alles in platten Interaktionen – Oberteile und Hosen werden ganz allmählich vom Leib gerissen, symbolisch betagte Erdbeeren aus Zippverschluss-Frischhaltebeuteln in Münder gestopft, Silikon-Brustschutzschalen fallen aus dem Topp und Gabrielli schüttelt, da kippt der verschämte Gruppensex ins Lächerliche, ekstatisch ein offenes Puderfläschchen. Irgendwann kriegt eine ältere Dame in der vordersten Reihe das Bett ans Schienbein, aber auch das tut nicht weh, zum Glück.

Benno Schirrmeister

Faye Driscoll: „Calving“, Theater Bremen, Kleines Haus. Wieder am 24. 6., 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen