Schuldenregeln in Europa: EU reißt erneut Stabilitäts-Pakt

Erst Corona, nun der Ukrainekrieg: Die EU-Kommission setzt die Defizitregeln erneut aus. Die erwartete EZB-Zinserhöhung macht alles noch schwieriger.

Menschen sitzen in einem Restaurant in Rom

Für hoch verschuldete Staaten wie Italien wird es schwerer, die Vorgaben aus Brüssel zu erreichen Foto: Angelo Carconi/epa

Brüssel taz | Erst war Corona schuld, nun ist es der Ukrai­nekrieg: Bereits im dritten Jahr in Folge hat die EU-Kommission empfohlen, die umstrittenen strengen Schuldenregeln für die Eurozone auszusetzen. Der Stabilitätspakt sollte erst 2024 wieder gelten, sagte Kommissionsvize Valdis Dombrovskis am Montag. Gleichzeitig mahnte er Italien, Griechenland und andere Länder zum Sparen.

Der Krieg in der Ukraine, hohe Energiepreise und Probleme bei den Lieferketten schafften Unsicherheit, betonte Dombrovskis. Deshalb könnten die Regeln – Neuverschuldung unter 3 Prozent der Wirtschaftsleistung, Schuldenstand maximal 60 Prozent – auch im kommenden Jahr nicht umgesetzt werden.

Das sei jedoch kein Freibrief zum Schuldenmachen. „Wir schlagen keine Rückkehr zu unbegrenzten Ausgaben vor“, sekundierte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Derzeit sei jedoch auch nicht der Moment, den Gürtel enger zu schnallen. So empfiehlt Brüssel weiter Investitionen in den Klimaschutz und die Digitalisierung. Neu kommt auch noch die „Energie-Unabhängigkeit“ von Russland hinzu.

Dafür hatte die EU-Kommission in der vergangenen Woche einen Plan vorgelegt. Er ist mit massiven neuen Ausgaben verbunden, allein aus EU-Mitteln sind bis zu 300 Milliarden Euro vorgesehen. Gleichzeitig bricht jedoch in der EU derzeit das Wachstum ein. Statt mit 4,0 Prozent rechnet die Brüsseler Behörde in diesem Jahr mit 2,7 Prozent.

Höhere Leitzinsen machen es für Italien schwerer

Ergebnis: Dringend benötigte Steuereinnahmen bleiben aus, die Neuverschuldung steigt, das Schulden-Problem wird immer größer. Dass die Europäische Zentralbank offenbar auch noch im Juli die Leitzinsen anheben will, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil: Für hoch verschuldete Staaten wie Italien wird es durch den höheren Schuldendienst sogar noch schwerer, die Vorgaben aus Brüssel zu erreichen.

Wie die EU-Kommission dieses Dilemma lösen will, ist unklar. Auch die versprochene Reform der Schuldenregeln kommt nicht voran. Der französische EU-Vorsitz wollte diese schon im Frühjahr eintüten. Doch nun werden erst im Sommer konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitätspakts erwartet.

Derweil häufen sich Warnungen vor einer neuen Krise. Die einen beschwören die Gefahr der Sparpolitik mit Sozialkürzungen herauf, andere fürchten eine Schuldenkrise. „Während der Pandemie sind die Staatsschulden förmlich explodiert“, sagt der CSU-Finanzexperte Markus Ferber. „Nun steigen auch die Zinsen an. Das ist eine explosive Mischung.“

Investitionen und hohe Löhne

„Sprengt die Schuldenfesseln“, fordert dagegen Martin Schirdewan von der Linken. Die EU-Schuldenregeln seien überholt. Angesichts der vielen Krisen brauche es „eine starke Konjunktur- und Investitionspolitik – und keine Schuldenbremsen.“ Ähnlich äußerte sich der Europäische Gewerkschaftsbund.

Es sei falsch, die EU-Länder zum Sparen zu mahnen, sagte ETUC-Generalsekretär Luca Visentini. Die Aussetzung der Schuldenregeln zeige, dass diese ihren Zweck nicht mehr erfüllten. Nötig seien Investitionen und höhere Löhne.

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