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Ohne Rad steht alles still

Über die Gefühle von Menschen, denen das Fahrrad geklaut wurde

Von Friederike Gräff

„Die Welt kriegt einen Riss“, sagt mir ein Kollege. „Ich bin ein großer, nicht mehr so junger Mann, und ich habe geweint“. Er weinte, weil ihm das geschah, was jedes Jahr 145.000-mal einem Menschen geschieht, und er verlor weder einen Freund noch einen Hund. Er verlor sein Fahrrad. Warum ist der Verlust eines Fahrrads etwas, das erwachsene Menschen weinen oder Selbstjustizfantasien entwickeln lässt?

Wer sich mit dem Thema befasst, hört ungefragt so viele Erfahrungsberichte, dass klar ist: Hier muss jemand noch einmal in die Welt rufen, welches Unrecht ihm und ihr widerfahren ist – und dieses Unrecht hat nichts mit dem materiellen Wert des Fahrrads zu tun. „Ich war viereinhalb Jahre alt“, schreibt ein anderer Kollege. „Es war für mich der erste Moment, in dem ich gemerkt habe, wie böse die Welt doch eigentlich ist.“ Es geht hier nicht um die Summe von Gepäckträger, Rahmen und Klingel, es geht um nichts weniger als den Verlust des Urvertrauens.

Interessant dabei ist, dass der Verlust auch hochaltrig so heftig trifft, als sei man wieder viereinhalb und das Pucky-Rad die einzige Möglichkeit, sich autark in die Welt zu wagen. „Ich konnte es nicht glauben“, dass ist das, was man leitmotivisch von denen hört, deren Fahrrad gestohlen wurde. Aber warum nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht, niederschmetternd groß ist? Weil es das ist, was nicht passieren darf, weil das Opfer sich gleichermaßen verletzlich und schützenswert fühlt. So fassungslos kann nur sein, wem ein Unrecht geschieht, das grundsätzlich falsch ist, weil es dem Falschen widerfährt.

Die Rad­fah­re­r:in­nen fühlen sich ohnehin bereits als Opfer, sie sind das schwächste Glied in einem Verkehrsgeschehen, dem sie sich jeden Tag aufs Neue aussetzen. Sie übersehen dabei, dass die Fuß­gän­ge­r:in­nen noch schwächer sind, aber irgendwo in ihrem Hinterkopf wissen sie es doch, und deshalb mischt sich eine narzisstische Kränkung in den Schmerz: Der Radklau degradiert sie zu Fuß­gän­ge­r:innen.

Das radelnde Kind kann nicht fassen, dass man ihm den Weg in die Welt nimmt, der radelnde Erwachsene kann nicht fassen, dass man sein verletzliches Bemühen um klimafreundliche Mobilität nicht würdigt. In einer besseren Welt würden nur Autos gestohlen. Aber wir, deren Welt schon einen Riss hat, werden sie wohl nicht mehr erleben.

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