: Kunst zum Niederlegen
Guðný Guðmundsdóttir bespielt labyrinthisch den Pavillon der Lübecker Overbeck-Gesellschaft: Warum ihre Schau „England“ heißt, muss der Betrachter entscheiden
Von Frank Keil
Kein Wort zu viel. Kein ausgelegtes Beiblatt, keine wortreichen Vorworte am Ausstellungseingang. Nur der Ausstellungstitel gilt: „England“. Vielleicht einfach nur als knappes Wort gemeint, als vager Klang, ohne festsitzende Bedeutung. Vielleicht aber auch ganz im Gegenteil der namentliche Verweis auf einen zu fassenden Sehnsuchtsort, zeichnerisch und malerisch in Szenen gesetzt wie ausgeschmückt, mit denen Guðný Guðmundsdóttir derzeit den Pavillon der Overbeck-Gesellschaft am nördlichen Ende der Lübecker Altstadtinsel bespielt.
Der Lebenslauf bietet zumindest keine Deutungshilfe: Die Künstlerin ist in Island aufgewachsen, hat ab 1990 an der Hochschule für Kunst und Design in Reykjavik, ab 1995 in Hamburg studiert. Seit einiger Zeit lebt sie jetzt in Berlin. Ihr Werk umfasst Zeichnerisches und Malerisches, Skulpturales und Objekthaftes. Zuletzt absolvierte sie ein Residenzstipendium in Paris.
In der Lübecker Ausstellung gibt es Zeichnungen in zwei Daseinszuständen, über die Wände mehr geworfen denn gehängt: eher kleinformatige Blätter, skizzenhaft mit Farbe wie getuscht; das dominante Blau jedenfalls bald sehr, sehr verdünnt und flüchtig. Möglicherweise Umrisse, Grundrisse, Burgmauern, die zu erkennen sein könnten.
Und dann großformatige, für sich raumgreifende Papierbahnen, mit Stift exakt ausgezeichnet, bespickt mit Linien, geometrischen Elementen, mit Kreisen und Quadraten, entlang von Flug- und Bewegungsbahnen, sodass sie dem Sujet der technischen Zeichnung naherücken.
Keines der Bilder ist gerahmt, stattdessen sind sie sachte an die Wände genagelt, hier und da auch flüchtig geklebt. Sie entziehen sich so repräsentativer Dominanz. Aber was ist zu erkennen? Muss es benennbar sein? Wie hängt das zusammen, was ist mit England? Und sind das zielführende Fragen? Fast versteckt findet sich ein handschriftlicher Zettel gleich einer Themenliste: darunter „DRAFT“, „Coast“, „GARLANDS“, „Mirage“, schließlich „Defence“, dann „AVALANCE“. Man ist schon ein wenig irritiert, aber mit Glück offenherzig.
Ich mache etwas, dass ich normalerweise in Ausstellungsräumen nicht so ohne Weiteres mache: Ich setze mich auf den Boden. Ich strecke die Beine aus, ich lege mich der Länge nach hin, liege nun auf dem Rücken und schaue mir das alles von unten an. Das ist sicher ungewöhnlich, drängt sich aber trotzdem auf, das Liegen, denn Guðmundsdóttir hat an nicht wenigen Stellen ihre Zeichenblätter so tief unten in Bodennähe drapiert, dass sie aufstoßen und sich leicht wellen.
Überhaupt: So manches führt in die Luft. Ein Schwung angedeuteter Vogelwesen etwa, verteilt auf fünf Blätter, unterhalb der Decke. Fluggestalten, die zu Flugzeugen werden. Und so schaut man in eine ganz eigene Welt, die kaum, dass sie einem Orientierungspunkte bietet, diese wieder zurückzieht. Das gibt dem Ganzen etwas angenehm Verwirrendes bei gleichzeitiger Geruhsamkeit. Was auch gut passt, denn der übliche Durchgang durchs Behnhaus in der Königstraße ist wegen Sanierung geschlossen. Also muss man im großen Bogen durch mindestens drei ineinanderfließende begrünte Innenhöfe gehen und sich mindestens einmal verlaufen, bis man schließlich am festen Ziel ist: dem hufeisenförmigen Overbeck-Pavillon mit Oberlichtern, durch die milde das Licht fällt, was die Kraft von Guðmundsdóttirs gut 200 Arbeiten, die sich zu einer raumumfassenden Gesamtarbeit addieren, noch einmal verstärkt.
Und dann ist da noch die Wespe. Hauptdarstellerin in einem kurzen Film, als Loop auf eines der eher malerischen Zeichenblätter projiziert: Eine Wespe krabbelt an einem Teelöffel, dann an einer Schale entlang.
Es dürfte Zuckerwasser sein, was da in Nahaufnahme kristallin schimmert. Die Wespe krabbelt vor, saugt, krabbelt zurück, der so kraftvoll geringelte Hinterleib pulst nahezu ohne Pause, ohne Unterbrechung, es sieht sehr nach Arbeit aus.
Ein Flugwesen in ständiger Bewegung auf dem Boden; um die Ecke dann zwei kleine, gesockelte Frauenfiguren mit Insekten-Antlitz, gekleidet in einer fast elisabethanischen Kluft.
So kommt schließlich alles zusammen: die oft flüchtige pastellene Anmutung der Farben, das Spiel mit dem Genauen; eine labyrinthische Grundstimmung sowie ein Insekt, das einen nie stechen wird und zu dem man doch Abstand hält. Es ist eine schöne Ausstellung.
„England“: bis 12. 6., Overbeck-Pavillon, Overbeck-Gesellschaft, Lübeck
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