Arbeitskreis-Sprecher über Gedenkstein: „Seine Tochter suchte seine Spuren“
Der Sinto Julius Dickel bekommt am Samstag einen Gedenkstein auf einem Bremer Friedhof. Er hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt.
taz: Herr Gerardu, wer war Julius Dickel?
John Gerardu: Er war der einzige Holocaust-Überlebende der Bremer Sinti-Familie Dickel. Zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern ist er im März 1943 als 16-Jähriger von der Bremer Polizei verhaftet und ins „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Er war kräftig und wurde deshalb nicht sofort ermordet, sondern zur Arbeit eingeteilt. Er war dann in verschiedenen KZ – unter anderem in Buchenwald. Von Theresienstadt aus ist er nach der Befreiung 1945 zurück nach Bremen gekommen.
Aber er blieb nicht dort.
Nein. Er erfuhr erst hier, dass seine Angehörigen in Auschwitz umgekommen waren. Daraufhin suchte er das existierende Familiengrab auf dem Bremer Friedhof Buntentor auf und erfuhr von einem Angestellten, dass ein Onkel in den Niederlanden überlebt hatte. Dickel wohnte dann eine Zeitlang bei ihm und blieb auch, als der Onkel nach Deutschland zurückging. Er lebte wohl in Den Haag und Groningen, heiratete und bekam 1969 eine Tochter, Linda.
Die den Gedenkstein initiiert hat.
Ja, auf sie kam ich im Zuge einer Gedenkfahrt in das niederländische Durchgangslager Westerbork. Einer der dortigen Historiker erzählte, dass sich eine Linda Dickel aus Rotterdam gemeldet hatte, die Tochter von Julius Dickel. Sie suchte Spuren.
70, Sozialpädagoge, hat 2009 die Initiative „Spurensuche Bremen“ mitgegründet.
Sie wusste nichts über ihren Vater?
Nein. Julius Dickel blieb damals nur drei, vier Jahre bei der Familie. Er war durch die Lagerhaft traumatisiert und führte ein unstetes leben. Später zog er ins baden-württembergische Offenburg, wo er 1993 starb. Als ich Linda anrief, fiel sie aus allen Wolken, weil sie zum ersten Mal viel über ihren Vater erfuhr. Da sein Grab in Offenburg inzwischen eingeebnet war, hat sie uns gefragt, den Arbeitskreis „Erinnern an den März 1943“ …
… der an die Deportation der Bremer Sinti und Roma vom 8. bis 10. März 1943 erinnert …
… ob wir einen Stein für ihren Vater auf das Familiengrab legen könnten. Das werden wir am 7. 5. tun, im Beisein von Linda und ihrer Mutter.
Hat der Termin eine Bedeutung?
Nein, das ist Zufall. Mit der deutschen Kapitulation am 8.5.1945 hat er nichts zu tun.
Wurde Julius Dickel nach 1945 entschädigt?
Ja, denn sein Gesundheitszustand war infolge der KZ-Haft sehr angegriffen. Dank der umfangreichen Recherchen des Historikers Hans Hesse haben wir außerdem erfahren, dass Julius Dickel 1961 den Kripo-Beamten Wilhelm Mündtrath, Haupttäter der Bremer Sinti- und Romaverfolgung, angezeigt hat. Er hatte Dickels Familie verhaftet und persönlich zum Schlachthof gebracht, von wo aus sie dann nach Auschwitz deportiert wurden. Mündtrath und mehrere andere Polizisten sind mitgefahren und haben die Familie am Lagertor der SS übergeben.
Wussten sie, was dort mit den Menschen passierte?
Einweihung des Gedenksteins durch den Gedenk-Aktrivisten John Gerardu: Sa, 7. 5., 11 Uhr, Bremen, Friedhof Buntentor (Eingang Buntentorsteinweg)
Angeblich nicht. Im Prozess hat Mündtrath alles abgestritten. Dabei gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die Polizisten es wussten.
Wurde Mündtrath bestraft?
Nein. Obwohl mehrere Zeugen gegen ihn aussagten, stellte der Staatsanwalt das Verfahren ein. Er fand, Mündtrath habe nicht erkennen können, „dass unschuldige Menschen ermordet werden sollten“.
Wird der Gedenkstein auch an die Holocaust-Opfer der Dickel-Familie erinnern?
Ja, aber für die einzelnen Namen ist leider kein Platz. So wird auf der einen Seite stehen: „Im Gedenken an Julius Dickel“. Auf der anderen: „16 Angehörige seiner Familie wurden von den Nationalsozialisten ermordet.“
Wer bezahlt den Stein?
Dankenswerterweise die Bremer Senatskanzlei.
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