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Vom Abgrund zur Kanzel

Da ist er, der zerrissene Mann, auf der Suche nach Liebe und Frieden: Bruce Springsteen spielte solo im Berliner ICC, das nun getrost und zügig abgerissen werden möge

Es ist zwanzig nach acht am Dienstagabend, Bruce Springsteen betritt die Bühne des asbestverseuchten Berliner ICC, in dessen Architektur Aggression und Uninspiriertheit eine Symbiose ungemilderter Abscheulichkeit eingehen. Springsteen trägt Jeans und blaues Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, er spielt Banjo und singt, und das Beste ist: Er hat keine Band dabei, man muss das Breitwandsaxofon von Clarence Clemmons und den Bombast der E-Street-Band nicht hören. Allein ist Springsteen viel besser; unterstützt nur von sechs- oder zwölfsaitiger Gitarre, Mundharmonika, dem Flügel oder einem Harmonium, verliert seine Stimme alles Stadionrockige, und das ist ein substanzieller Gewinn.

Schon beim dritten Stück des Abends, „Devils & Dust“, hat Springsteen sein Thema gefunden: „Trying to survive, kill the things you love“ – da ist er, der ewig zerrissene Mann, auf der Suche nach Liebe, Harmonie und Frieden, und immer von Dämonen gehetzt. Etwas später singt er „Two Faces“ vom „Tunnel of Love“-Album: „I met a girl and we ran away, I swore I’d make her happy ev’ry day, and how I made her cry, two faces have I.“ Der Mann kennt sich aus in der Welt und ihren sehr alltäglichen Abgründen.

Springsteen wirkt entspannt, freundlich, und auf Deutsch bittet er um Verzeihung dafür, dass sein Konzert sehr kurzfristig um ganze sechzehn Tage nach hinten verschoben worden ist. Es folgt „Long time coming“ mit der Selbstbeschwörung „Ain’t gonna fuck it up this time“, die er anschließend lakonisch präzisiert: „Ain’t gonna fuck it up this time too bad“, müsse die Zeile heißen, das sei die „most honest expression“.

„Love Songs“, erzählt Springsteen aufgeräumt, habe er lange Zeit nicht geschrieben, sein Vater habe ihm eingetrichtert, die seien bloß „Government Conspiracy“, also nur zu dem Zweck gemacht, die Jungs bei der Familienstange zu halten: „Work hard, pay taxes and – suffer.“ 37 Jahre lang habe er das geglaubt, sagt er und lacht, und dann singt er am Flügel, als wäre er der junge Bob Dylan, als dessen Reinkarnation er in den Siebzigerjahren begeistert begrüßt wurde.

Die Songs des neuen Albums „Devils & Dust“ sind der rote Faden dieses Abends, „Silver Palomino“, das bekenntnishafte „Reno“, das ohne Beschönigung den Besuch bei einer Prostituierten beschreibt, „Jesus was an Only Son“ und „Matamoros Banks“, sein Lied über die illegalen Einwanderer in die USA, die auf der Strecke bleiben. Für die Reinschreisorte Mensch, deren Fotohandys bedauerlicherweise nicht vor dem Konzert kompetent zertrampelt wurden, gibt es „Stay hard, stay hungry, stay alive“. Dennoch: 110 Minuten lang ist es ein großer, berührender Abend.

Ein gut Teil des Publikums aber will kein Konzert, sondern einen Gottesdienst, strömt nach vorn und reckt Springsteen Kleinkinder entgegen. Um diese Vorhölle zu komplettieren, drängt sich Wolfgang Niedecken auf die Bühne und macht bei „Hungry Heart“ mit, nicht ohne diverse Zeilen auf Mümmelkölsch dazwischenzuknäckern. Der Kollege neben mir flieht entsetzt, „den muss ich nicht hören“, keucht er und weist, im Gehen noch brillant formulierend, auf „die FDJ des ZDF“ hin – auf Michael Steinbrecher, den kirchentagstauglichen ewigen TV-Jugendgreis. Claudia Roth, die Doppelkinnspitze der Grünen, und Jürgen Fliege, der Milchmann der frömmelnden Denkungsart, haben auch Einlass gefunden, und Springsteen selbst rundet diesen Albtraum ab: „Open up your heart, dry your eyes, I wanna see you smile, keep on dreaming“, predigt er sakral am Harmonium, Michael Steinbrecher betet inbrünstig mit. Dann ist die Messe gelesen – schade, wär zu schön gewesen. WIGLAF DROSTE

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