piwik no script img

Nachruf auf Jürgen ReentsEin bescheidener Kämpfer

Jürgen Reents war Shootingstar der Kommunisten und Chefredakteur des ND. Er fand erst Mao, später die Grünen gut. Ein persönlicher Nachruf.

Er hatte Menschen, die ihn lieben: Politiker und Journalist Jürgen Reents (1949-2022) Foto: Frank Darchinger

Dass er keine Lust mehr habe, hatte er anfangs nicht so ausdrücklich geäußert. Vor einem halben Jahr, da war Jürgen gerade in sein letztes Zimmer umgezogen, äußerte er erstmals, nicht mehr leben zu wollen.

Er lag in seinem Bett, gerade war die Physiotherapeutin gegangen, die seine Hände und Füße massierte, damit diese warm bleiben. Er selbst konnte dies schon lange nicht mehr, vor gut vier Jahren begann diese tückische Erkrankung buchstäblich von ihm Besitz zu ergreifen. ALS ist für sie das Kurzwort, das besagt, der von ihm befallene Mensch muss hinnehmen, dass die Nerven absterben, das Gehirn mag Kommandos geben, aber der Körper gehorcht nicht mehr – und die Medizin weiß faktisch nichts über diese Krankheit, Heilung ausgeschlossen.

Da werde ich dir niemals zustimmen, ich würde mein ganzes Leben verraten

Jürgen sagte also: Die Ärzte sagen, am besten wäre, ich bekäme eine Lungenentzündung, dann ginge alles schnell – aber ich bekomme einfach keine Lungenentzündung.

Das, was dieser Mann, dieser neu gewonnene Freund und alte Genosse, hier sagt, womit er zitiert, ist nicht mit Zitate kenntlich machenden Anführungszeichen markiert, er kann seine Sätze nicht mehr autorisieren, denn er lebt nicht mehr. Am Donnerstag voriger Woche, schrieb Astrid, seine Liebste, an Freunde und Freundinnen, habe in Berlin endlich mal wieder die Sonne die Wolken überwunden, sie strahlte, und das sei in gewisser Weise das Zeichen des Loslassens für ihn gewesen, dass es lichter wurde, und nun sei er, Jürgen, ihr Liebster, wie erlöst gegangen, sein Leiden habe ein Ende gefunden.

Mitgliedschaft im KB

Wenige Wochen zuvor war das Zimmer endlich zu seinem geworden. An den Wänden hingen Poster, auf einem eine Pariser Caféhausszene, ein ikonisches Bild aus einer Zeit, in der das Rumhängen in einem Lokal in der französischen Hauptstadt für ein gewisses Flair stand, für Weltangeschlossenheit, Coolness und das politische selbstverständliche Credo von „Time Is On My Side“. Im Regal Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“, wenige andere Bücher und ein Briefumschlag. Er bat mich, aus ihm die Karte herauszunehmen, auf ihr zu sehen ein Foto einer älteren Frau und ein paar Zeilen. Meine Mutter, sagt er, als sie mich für ein Wochenende in Bonn besuchte, man erkennt auf dem Bild eine gemütliche Weinschänke.

Jürgen fragt, ob ich ihm die Zeilen vorlesen könne. Eine schöne Handschrift mit typisch mütterlichen Worten, aus denen zwischen den schlichten Zeilen vor allem Verblüffung hervorzuschimmern scheint, dass der Sohn ihr wirklich diese Zeit geschenkt hat – er war ja beschäftigt, saß damals für die Grünen im Bundestag, war einer der Wichtigen in dieser Partei, ein ehemaliger Kommunist, jedenfalls ein Linker. Jürgen sagt: Lieben Mütter nicht immer ihre Kinder, immer? Mir schien, als würde er gleich weinen. Nein, Jürgen, das tun sie nicht, aber: War deine Mutter nicht vor allem stolz auf dich? Ich weiß nicht, erwidert er, Stolz … das ist so ein großes Wort. Aber ja, vielleicht.

Wir kennen uns seit langem, seit 1979 genauer gesagt. Jürgen Reents war der öffentliche Kopf des Kommunistischen Bundes, der tonangebenden K-Gruppe in Norddeutschland, irgendwie, so hieß es, chinesisch orientiert, jedenfalls nicht, wie die DKP, DDR-hörig. Er schrieb Flugblätter, er hatte das beste Händchen im Verschriftlichen von Texten für den Arbeiterkampf, er war, wie ein anderer alter Genosse sagt, „Willis Schreibmaschine“: allzeit bereit, agitatorisch zu intervenieren für einen der beiden Chefs des KB, Klaus „Willi“ Goltermann.

Wenig später war Jürgen Reents Teil der frisch gegründeten Grünen, der KB blieb als ein ideologisch erlöschendes Trümmerstück der radikaleren Linken der Siebziger zurück, gemeinsam waren wir Teil der linken Zeitschrift Moderne Zeiten, Ralf Fücks war mit dabei, der spätere Vordenker der Heinrich-Böll-Stiftung, Frieder Otto Wolf, Philosoph – und ich fragte Jürgen Reents, ob er alte Exemplare dieser Zeitschrift noch habe, darin sei ein interessantes Gespräch mit dem damaligen Außenseiter der Grünen, Winfried Kretschmann, zu finden. Er antwortete mittels Facebook, er könne nicht mehr rasch antworten, er sei erkrankt, ziehe sich zurück. Einen Besuch bei ihm verabreden wir.

Er stand in der Tür, die Arme hingen ihm herab, er konnte sie nicht mehr steuern. Ein Versprechen musste ich abgeben. Kein Mitleid, kein sentimentaler Ton. Im schönen Wohnzimmer läuft der Fernseher, Astrid macht Kaffee, etwas Kuchen, Jürgen kann durch einen gläsernen Halm trinken. Können wir über das Früher reden? Gern, aber was weiß ich, sagt er. Nicht mehr ist er Chefredakteur vom Neuen Deutschland, seine Kontakte in die Partei werden seltener, so ist das Altwerden, sagt er, man verliert für andere an Wichtigkeit.

Linksradikale WG

Über sehr viele Stunden, anfangs in der Wohnung am Grunewald, später im Pflegeheim, reden wir. So, als sei es ganz normal, dass er sich immer weniger rühren kann, am Ende im Bett liegt. Wäre er, wäre ich religiös, hätten wir gesagt: Gott sei Dank gibt es Siri und Alexa, mit den digitalen Werkzeugen kann er Programme umschalten, den Ton des Radios lauter oder leiser stellen, auch Termine abfragen, das Sprechen wird leiser, kraftärmer, aber es geht gut. Alexa, was steht Donnerstag in meinem Kalender? Alexa: Nichts.

So erzählt er, wie immer, niemals hastig, immer eine Sekunde überlegend. Zur Welt in Bremerhaven, gute Eltern, kleinbürgerlicher Haushalt, sozialliberal gesinnt, kein konservatives Umfeld, er, der erste in der Familie mit Abitur, als Schülervertreter viel Ärger, erste Aufrührerischkeiten, Beitritt zu den Jungen Demokraten, der liberalen Nachwuchsorganisation, weil dieser Verein an der Seite der späteren Achtundsechziger stand, gute Lehrer und Lehrerinnen, ein starkes Talent fürs Mathematische und Naturwissenschaftliche. Nach dem Abitur Umzug nach Hamburg, das Studium begonnen, aber dann in einer linksradikalen WG am Hamburger Feenteich, allerbeste großbürgerliche Lage, begann sein politisches Leben.

Auf den Mitschnitten unserer Treffen hört man, dass Jürgen Reents der freundlichste Mensch war, der sich denken lässt. Wir gehen im Laufe der Monate viele Stationen durch – aber über niemanden spricht er Hässliches, Gemeines, Abträgliches. Und das trotz härtester Auseinandersetzung in der Linken.

Beim KB waren wir nicht gerade die Theoriestärksten, erzählt er. Eher Äktschn, gegen Faschisierung von Staat und Gesellschaft, wie es hieß, Mobilisierung in Sachen Kampf gegen AKWs, volle Pulle gegen Brokdorf, Grohnde und Gorleben, aber nie Harakiri.

Bis zum Schluss Sozialist

Jürgen, warum haben wir diesen ideologischen Kram geglaubt? Die Bundesrepublik war doch weitflächig dabei, sich zu liberalisieren? Und weshalb hast du das Studium abgebrochen, war dir nie klar, du warst Teil der wachsenden demokratischen Elite des Landes, war nicht noch klarer, dass das Kommunistische eine Kuriosität bleiben würde, erfahren von den echt Betroffenen als Schrecken? Warum diese Siebzigerjahrespielchen, die Kämpfe der Weimarer Republik nachzustellen? Ich weiß es nicht, erwidert er, es ist so lange her, ich habe mir nie so viel Gedanken darum gemacht, ich hing da mit drin, und das war mir immer auch plausibel.

Was habt ihr euch denn unter China und Mao vorgestellt? Er war mal, sagt er, in den frühen Siebzigern auf einer Ausstellung in den Kölner Messehallen gewesen, die Volksrepublik präsentierte sich in Bildern jubelndsten Einvernehmens. Jürgen sagt: Ich ging da durch und dachte mir nichts. Nur, dass ich die Bilder stramm stehender Milizionäre und Soldaten abstoßend fand, Militärisches stieß mich immer ab.

Wir haben viel geredet, über seine Liebe zu Boulespiel, das Pastis-Trinken, die Reisen in seine Sehnsuchtsländer Italien und Frankreich, auch über die Beatles, die Stones. Er fragte mich, was ich an Abba gut finde und an Madonna und am Eurovision Song Contest – nicht exotisierend, sondern interessiert. Bemerkungen, die aus seinem Fundus grundsätzlicher Bescheidenheit schöpften, etwa, dass es gar nicht nötig sei, mich auf den weiten Weg zu ihm machen.

Aber, Jürgen, mal zum Schluss, das mit dem Sozialismus ist doch Quatsch, oder? Nein, sagt er, da werde ich dir niemals zustimmen, selbst wenn ich möchte, ich würde mein ganzes Leben verraten.

Dass er kurz nach dem Ende der DDR in die PDS eintrat, für Gregor Gysi arbeitete, später für das Neue Deutschland den Chef machte und der Klügste aus dem Westen war, den die SED-Nachfolger*innen haben von dort shanghaien können, lässt ihn trotzdem sagen: Ich bin emotional immer stärker den Grünen verwandt geblieben, das war mein Projekt.

Er ist gegangen, er war mir wichtig geworden. Man musste ihm wünschen, gehen zu dürfen. Er hatte Menschen, die ihn lieben. Und das ist nur gerecht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Vielen Dank für dieses bewegende und persönliche Portrait.