Solidarität mit der Ukraine: Blau-gelbe Punkte
Im Juni 1969 stoppte die Bürgeraktion Roter Punkt die Fahrpreiserhöhung für Busse. Sie könnte Vorbild sein für eine Bewegung der Solidarität mit Kiew.
E s ist quälend, zwischen Moral und der Logik des Krieges hin und her zu pendeln: Der Blick auf Bilder drängt zu radikalen Maßnahmen, aber keiner kann mir sagen, ob die Folgen eines Gasboykotts so dramatisch wären, wie der BASF-Chef behauptet; ich weiß nicht, wozu deutsche Autofahrer fähig sind oder welche Folgen die Einstellung der Ammoniakproduktion hätte.
Allenfalls beim Export von Ritter Sport und Metro-Würstchen habe ich eine klare Meinung, bei den Aufrufen zum Nato-Einmarsch von jugendlichen Chefreporterinnen auf www.welt.de oder bei der Befürchtung, der kranke Mann im Kreml könne bis zum Äußersten gehen. Und diesen Satz zu schreiben, kommt mir schon nach dem Punkt zynisch vor. Es ist furchtbar, in einer solchen Situation nur wählen zu können, wessen Urteilsvermögen und Kenntnis man vertraut.
Und es ist regelmäßig zum Kotzen, wenn Wahlkämpfer oder Kolumnisten ihre alten Suppen mit Freiheitspathos aufmotzen. Man möchte was tun, aber was? Viele helfen auf Bahnhöfen und in Unterkünften, wer kann, stellt seine Wohnung zur Verfügung. Wir drehen die Heizung runter, wir spenden, wir folgen der verzweifelten Aufforderung von Wolodimir Selenski, auf die Straßen zu gehen.
Können wir noch mehr tun, wir Nichtentscheidungsverpflichteten mit begrenzter Zeit, außer demonstrieren? Etwa so weit war es in einem dieser vielen Gespräche nach einer dieser vielen Horrormeldungen. „Man bräuchte“, sagte da einer der Älteren, „wieder so etwas wie den Roten Punkt.“ Der Rote Punkt, das war, 1969, eine Bürgeraktion gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in Hannover, von 70 auf 80 Pfennig.
lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).
Der Rote Punkt funktionierte
Es gab Proteste, die nützten nichts, Studenten blockierten die Gleise und Busdepots, die Polizei griff ein, es wurde weiter blockiert. Die Polizei kam mit Wasserwerfern, das erweckte den Unwillen von ganz stinknormalen Bürgern, die auf einmal Lust an Vergehen gegen den § 1 der StVO fanden und sich dazusetzten. Der Verkehr blieb lahmgelegt – eine Woche lang. Und trotzdem kamen fast alle pünktlich zur Arbeit, zur Schule, zum Arzt, und sogar komfortabler als sonst.
Wegen des Roten Punktes. Der hatte zehn Zentimeter Durchmesser, sympathisierende Autofahrer konnten ihn aus Flugblättern ausschneiden oder aus den hannoverschen Zeitungen, denn auch die hatten sich der Volksstimmung angeschlossen, und hinter die Windschutzscheibe kleben. Die Stadtverwaltung selbst ließ 50.000 Rote Punkte drucken. Und immer mehr Motorisierte machten mit; freiwillige Lotsen winkten die Autos in die Haltestellenspuren der stillgelegten Straßenbahnen.
Der Verkehr floss reibungslos, an den Knotenpunkten regelten Aktivisten den Verkehr so professionell wie Polizisten. Es machte allen Beteiligten einen Riesenspaß, es hätte ewig so weitergehen können. Und deshalb schwenkte die Stadtregierung nach einer Woche die weiße Fahne und sagte die Kommunalisierung der bis dahin privat betriebenen Hannoverschen Verkehrsbetriebe zu.
Weil nichts so überzeugend ist wie der Erfolg, gab es noch ein paar Jahre lang Rote-Punkt-Aktionen in einem Dutzend anderer Städte – und in Hannover leuchten bei den Älteren die Augen, wenn sie von der Aktion erzählen. Freilich auch davon, dass auch die schönsten Erfolge eine Halbwertszeit haben: Neun Monate später wurden die Preise doch erhöht.
Kollektive Aktionen dieser Art und Größenordnung sind selten. In diesem Fall kam einiges zusammen: Es herrschte ganz allgemein ein Klima des Aufbruchs, es gab ein breites Bündnis, vor allem aber war die Aktion selbst sportlich und schaffte eine neue Gemeinschaft auf den Straßen: Gespräche kamen in Gang, man politisierte, lernte sich kennen, machte unvergleichliche Erfahrungen in fremden Autos.
Bundesweit Nachahmer
Man sagte nicht nur seine Meinung – in Chören und auf Transparenten –, sondern organisierte eine funktionierende Alternative. Und man tätigte einen körperlichen Einsatz, man setzte sich in Bewegung, wurde sichtbar für andere und andere für einen. Handeln verpflichtet, mehr als Worte. Die Bürgergesellschaft erlebte sich für eine Weile als Akteur. Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Verzweifelt bittet der ukrainische Präsident Selenski auch uns Bürger, zu zeigen, dass wir solidarisch sind.
Für einen Augenblick also stelle ich mir vor, dass wir nicht warten, bis irgendwann nach Ostern Benzinzuschüsse und ermäßigte Monatskarten verteilt werden, sondern dass jetzt schon Tausende von Autofahrern in allen Städten, in allen Landkreisen einen blau-gelben Punkt, 10 Zentimeter Durchmesser, hinter die Windschutzscheibe kleben, die Wartenden an den Haltestellen der Busse und Bahnen, an den Kreuzungen so einen Punkt hochhalten.
Dass das um sich greift: etwas, wenn auch Kleines zu tun, um Putin und den Spekulanten ein wenig die Nachfrage abzudrehen, um Engpässen vorzubeugen. Und zur gleichen Zeit etwas gegen den ökologischen Wahnsinn, dass Hunderttausende morgens und abends allein in ihren Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor sitzen, und drei Plätze sind frei. Es wäre auch eine kleine Revolte gegen den Individualismus des Konsums und des Verkehrs, an den wir uns so gewöhnt haben.
Es würde Reibung erzeugen, und Wärme, und die Zahl der Begegnungen erhöhen. Wir würden uns als Gesellschaft erleben und uns vielleicht sogar während der Fahrt darüber streiten, ob die Annäherungspolitik richtig war, was eigentlich so schön daran ist, 30 Minuten allein mit sich im Auto zu sitzen, oder wie wir es mit Nackensteaks halten.
Ich weiß, das ist ein romantischer Gedanke, und nostalgisch dazu. Man kann so etwas nicht voraussagen oder planen, aber es sind immer drei oder fünf oder fünfzig, die den Anfang machen. Und wo es klappt, verändert es etwas, so wie damals in Hannover. Ein Roter Punkt – das ist ja schließlich auch die Markierung auf der Landkarte, die den eigenen Standpunkt anzeigt – und oft den Beginn einer Wanderung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“