Staatsbesuch im Ukrainekrieg: Im Sonderzug nach Kiew
„Unsere Pflicht, dort zu sein“: Mitten im Krieg machen sich drei osteuropäische Ministerpräsidenten auf den Weg in die ukrainische Hauptstadt.
Am Nachmittag wurde gemeldet, die Reisegruppe habe das westukrainische Lwiw passiert. „Das Ziel des Besuchs ist, die uneingeschränkte Unterstützung der EU für die Ukraine und ihre Freiheit und Unabhängigkeit zum Ausdruck zu bringen“, twitterte Fiala. Morawiecki sagte: „Es ist unsere Pflicht, dort zu sein, wo Geschichte geschrieben wird. Denn es geht nicht um uns, es geht um die Zukunft unserer Kinder, die es verdient haben, in einer Welt frei von Tyrannei zu leben.“
Mit dabei ist Polens Vizepremier Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei PiS. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sein Zwillingsbruder Lech Kaczyński im Jahr 2010 als damaliger Präsident Polens starb, als er zu einer Gedenkfeier zur Erinnerung an die Ermordung polnischer Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst 1940 im russischen Katyn unterwegs war. Seine Anhänger schieben den Absturz seines Flugzeugs bei Smolensk bis heute einem Abschuss durch Russland zu.
Jetzt wagt sein Bruder eine Reise in ein Gebiet, wo Russland Krieg führt. Vor der Abreise erinnerte Morawiecki an den Besuch Lech Kaczyńskis in Georgiens Hauptstadt Tiflis 2008, als das Land von Russland angegriffen wurde, und zitierte ihn: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann ist es vielleicht Zeit für mein Land, für Polen.“
Die Reise erfolgt in einem Kontext wachsender Zuversicht der Ukraine und der Erwartung, dass eine Entscheidung bevorstehen könnte. Die ukrainische Seite rechnet damit, dass Russland verstärkt versuchen wird, Kiew zu infiltrieren, nachdem die bisherigen russischen Vorstöße und Einkreisungsversuche mit Bodentruppen allesamt gescheitert sind.
„Wir stehen am Scheideweg“
Während das Parlament in Kiew am Dienstag das Kriegsrecht um 30 Tage verlängerte, verhängte die Stadtverwaltung eine Ausgangssperre von Dienstagabend 20 Uhr bis Donnerstag früh 7 Uhr. Es sei ein „schwieriger und gefährlicher Moment“, sagte Kiews Bürgermeister Klitschko. „Wir stehen am Scheideweg“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Olexii Arestowytsch, der die laufenden Verhandlungen mit Russland führt.
Der ukrainische Präsident Selenski forderte Russlands Soldaten in einer Videoansprache auf, sich zu ergeben. Russlands Armee habe in 19 Tagen Ukraine-Krieg mehr Soldaten verloren als in beiden Tschetschenien-Kriegen, sagte Selenski in einer Videobotschaft und richtete sich direkt an die russischen Truppen: „Warum sollt ihr sterben? Für was? Ich weiß, dass ihr überleben wollt. Wir hören eure Gespräche ab, wir hören, was ihr wirklich denkt über diesen sinnlosen Krieg, diese Schande und euren Staat, eure Anrufe bei der Familie, wir hören alles. Wir ziehen Schlüsse daraus. Wir wissen, wer ihr seid. Im Namen des ukrainischen Volkes gebe ich euch eine Chance: Wenn ihr euch unseren Kräften ergebt, werden wir euch so behandeln, wie man Menschen behandeln sollte, mit Würde – so, wie euch eure Armee nicht behandelt und wie sie die Unsrigen nicht behandelt.“
Derweil setzt Russland seine Luftangriffe fort. Unter anderem wurden am frühen Morgen Wohngebiete in Kiew und der Flughafen der Stadt Dnipro bombardiert. Der US-Sender Fox News bestätigte am Dienstag den Tod seines Kameramanns Pierre Zakrzewski an der Front vor Kiew am Montag. Im Westen der Ukraine wurde eine russische Drohne abgeschossen, die zuvor in den polnischen Luftraum eingedrungen war. Im Süden der Ukraine konnten 2.000 Privatfahrzeuge mit Zivilisten die eingekesselte Stadt Mariupol verlassen, teilten die Stadtbehörden am Mittag mit. Weitere 2.000 Autos seien abfahrbereit. Versorgungskonvois für Mariupol steckten hingegen weiter im russisch kontrollierten Gebiet fest und in der Stadt wurde heftig gekämpft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“