: Rot-rot-grüner Coup im Bundestag
BETREUUNGSGELD Opposition überrumpelt die Koalition und verzögert so das umstrittene Gesetz
■ Im Bundestag stimmen die Abgeordneten auf unterschiedliche Weise über Gesetzesvorhaben oder die Besetzung politischer Posten ab:
■ Meistens reicht es, Mehrheiten durch Handzeichen oder Aufstehen festzustellen.
■ Manchmal verlangen Fraktionen eine namentliche Abstimmung. Im Protokoll steht dann, wer sich wofür entschieden hat.
■ Mit verdeckten Wahlzetteln dagegen werden die wichtigsten Ämter bestimmt, dazu gehören der Posten des Bundeskanzlers und der des Bundespräsidenten.
■ Beim Hammelsprung verlassen die Parlamentarier den Saal und kehren durch eine von drei Türen zurück: Ja, Nein, Enthaltung.
VON HEIDE OESTREICH UND ULRICH SCHULTE
Normalerweise ist Hermann Gröhe ein bedächtiger, fast sanfter Vertreter seiner Zunft. Wenn er verbal grobe Attacken fährt, die zum Job eines CDU-Generalsekretärs gehören, sieht es oft so aus, als müsse er sich dazu zwingen. Doch als er sich jetzt vor den Mikrofonen vor dem Plenarsaal im Bundestag aufbaut, schäumt Gröhe geradezu: „Das ist ein einmaliger und ungeheuerlicher Vorgang“, sagt er. Die Opposition betreibe Arbeitsverweigerung, sie boykottiere das Parlament, sie trickse herum. „Das ist schäbig.“ Neben ihm steht sein CSU-Kollege Alexander Dobrindt, das Kinn vorgeschoben, und auch er wettert über das „dreckige Foulspiel“.
Was sie nicht sagten: Sie haben für diesen Trick selbst den Weg bereitet. 126 Koalitionsabgeordnete befanden sich am Freitagmittag bereits auf dem Weg in den Wahlkreis, zu Hause oder in wichtigen Sitzungen, sie waren jedenfalls nicht im Bundestag.
Zum Eklat kam es bei einem eher uninteressanten Tagesordnungspunkt: SPD und Grüne hatten am Vormittag einen gemeinsamen Antrag gestellt, den Vertrieb von Zeitungen sicherzustellen. Als die Parlamentarier die Hände hoben, war sich der Sitzungsvorstand nicht einig, ob die Koalition oder die Opposition die Mehrheit hatte. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau ordnete daraufhin einen Hammelsprung an – bei diesem Verfahren verlassen die Abgeordneten den Saal und kommen durch mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ gekennzeichnete Türen wieder herein. Dies erlaubt eine genaue Zählung.
Und nun griffen SPD, Grüne und Linke zu einem Verfahrenstrick. Nach taz-Informationen brieften die Fraktionsspitzen ihre Leute, einfach vor den Türen stehen zu bleiben. Strategen wie Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck witterten die Chance, die Koalition vorzuführen.
Denn der Bundestag ist laut Geschäftsordnung nur dann beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder (310 Abgeordnete) vertreten ist. Und so viele Leute von Schwarz-Gelb, vermuteten die Oppositionsstrategen, waren nicht erschienen. So kam es zu einer merkwürdigen Szenerie: Während die Koalitionsleute brav durch eine Tür in den Saal zurückgehen, drängeln sich draußen Abstimmungsverweigerer der Opposition.
Die Plenarassistenten zählen. Zweihundertelf. Zu wenig. Der Bundestag ist nicht beschlussfähig, gibt Pau bekannt. Die Sitzung wird aufgehoben. Während die Koalition nun schäumt, gibt SPD-Parlaments-Geschäftsführer Thomas Oppermann ihr selbst die Schuld für den Abbruch. Es sei nicht Aufgabe der Opposition, die mangelnde Präsenz der Koalition auszugleichen. Nicht wenige Parlamentarier von Schwarz-Gelb seien zudem „aus stummem Protest“ gegen das Betreuungsgeld der Sitzung ferngeblieben.
Rita Pawelski weist diesen Vorwurf zurück: Sie ist Chefin der Gruppe der Frauen in der Union, und diese Gruppe ist mehrheitlich gegen das Betreuungsgeld. Waren es ihre Frauen, die fehlten? „Nein, wir waren da. Wer das behauptet, haut unter die Gürtellinie“, erklärt sie. Hat sie sich denn die Hände gerieben? „Überhaupt nicht. Das war nicht fair von der Opposition“, sagt sie. „Sie haben auch uns und unseren Anliegen geschadet.“ Die Gruppe der Frauen hatte erst am Donnerstag lange mit Kanzlerin Angela Merkel beraten und sich mit ihr auf einen Modus vivendi geeinigt. Der sei nun wieder infrage gestellt, so Pawelski.
Da sich die Abgeordneten nur zu Beginn der Sitzung eintragen, nicht aber, wann sie diese wieder verlassen, lassen sich nun nur die gänzlich Ferngebliebenen feststellen. Pikant: Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) war nicht da.
Der Streit über das Betreuungsgeld geht weiter. Denn das Gesetz wird nun erst nach der Sommerpause in den Bundestag eingebracht.
Meinung + Diskussion SEITE 11
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