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Autor über Debattenkultur„Zunehmend rigorose Forderungen“

Zu viel politische Korrektheit? Autor Matthias Politycki floh nach Wien – weil ihm in Hamburg das Schreiben unmöglich geworden sei.

Ganz andere Debattenkultur? Gäste und Personal im Kaffeehaus Hawelka, Wien Foto: Christian Bruna/dpa
Alexander Diehl
Interview von Alexander Diehl

taz: Herr Politycki, wenn Sie, und sei’s in der Nacht, an Deutschland denken – was macht das mit Ihnen?

Matthias Politycki: Es hat mich tatsächlich lange schlaflos gemacht, und nicht nur mich. Als ich anfing, mich mit anderen darüber zu verständigen, war ich überrascht, wie vielen es ähnlich ging, gerade auch Leuten aus meiner klassisch-linken Ecke. Die Freiheit der Debattenführung, die Unbeschwertheit des Sprachgebrauchs, das direkte Ansprechen auch kontroverser Themen: Wie konnte all das, was wir so selbstverständlich über Jahrzehnte genossen haben, so schnell verschwinden? Es hatte ja nicht etwa irgendwer von oben eingeschränkt.

Wer war es denn dann?

Wir selbst waren es mit unseren zunehmend rigorosen Forderungen nach politischer Korrektheit in allen Lebensbereichen. Irgendwann war ein Punkt überschritten, der auch mir die Sprache verschlagen hat. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich merkte, dass ich nicht mehr unbeschwert und mit Freude in den Tag ging – nicht als Mitglied unsrer Gesellschaft, nicht einmal mehr als Schriftsteller am eigenen Schreibtisch, schließlich war mir die Sprache selbst zum Problem geworden.

Mathias Bothor/Photoselection
Im Interview: Matthias Politycki

66, Schriftsteller, verließ im Frühjahr 2021 Hamburg und zog nach Wien. Sein Buch „Mein Abschied von Deutschland“ ist soeben bei Hoffmann und Campe erschienen (144 S., 16 Euro)

Lässt sich das an etwas Konkretem festmachen?

Wie gesagt, ich komme aus der Linken. Das heißt, ich bin umgeben von Leuten, die mich – sei’s auch nur zum Scherz – bei gewissen Themen fragen: Darfst du als Weißer dazu überhaupt noch Stellung nehmen, darfst du noch darüber schreiben? Ich antworte jedes Mal: Selbstverständlich darf ich das, vielleicht ist genau das sogar meine Aufgabe – schließlich bin ich viel in Afrika und Asien unterwegs gewesen. Was heute der „kulturellen Aneignung“ verdächtig gemacht wird, hieß gestern noch Weltoffenheit und Kosmopolitismus. Wie reaktionär unsere aktuellen weltanschaulichen Positionen erscheinen, wenn man sie aus der Perspektive des Reisenden betrachtet! Und wie moralinsauer unser aktueller Sprachgebrauch bis hin zur permanenten Sexualisierung von Menschen und Menschinnen!

Es geht Ihnen also um die Sprache, aber auch um die Themen, über die in einer – vielleicht regulierten – Sprache nicht gesprochen werden dürfe. Welche konkreten Auswirkungen hatte das für Sie?

Ich bin in der glücklichen Situation, dass ich schreiben kann, was und – vor allem – in welcher Wortwahl ich will. Aber andere können das nicht mehr. Ich erhalte viele Mails, vor allem von Journalisten, aber auch von Schriftstellern, die mit ihren Texten bei ihren Redaktionen oder Verlagen nicht mehr „durchkommen“. Sie werden gegen ihren Willen gegendert, gegen ihren Willen werden Aussagen gestrichen, manchmal erfahren sie davon erst, wenn der Text im Blatt steht oder auf der Website. Romanmanuskripte werden von sogenannten „Sensitivity Readern“ redigiert; sie markieren jede Stelle, die eine Minderheit verletzen oder einen „sensiblen“ Leser „retraumatisieren“ könnte. Kann man derart glattgeschliffene Texte überhaupt noch als Literatur bezeichnen?

Nun hat eine Macht immer schon mitbestimmt über Wohl und Wehe der Schreibenden: der Markt. Auch die Notwendigkeit, sich etwa Ver­le­ge­r*in­nen­vor­stel­lun­gen anzupassen, ist ja nicht mit neuen Sprachregelungen oder Gender-Studies-Seminaren ins Spiel gekommen.

Ich selbst bin als experimenteller Autor gestartet, liebe den kreativen Umgang mit Sprache, bin absolut für Veränderung. Und nicht nur in der Sprache! Gedanklich komme ich von Nietzsche, dem jede Weisheit nur dazu dient, widerlegt zu werden, der immer wieder versichert, dass seine gestrigen Wahrheiten und Gewissheiten heute womöglich nicht mehr gelten. Es ist allerdings ein Unterschied, ob sich Meinungen und Sprachgepflogenheiten organisch entwickeln oder ob sie von einer selbsternannten Elite dekretiert werden. Meine Eltern hatten den Nationalsozialismus erlebt, aus ihren eigenen Versäumnissen heraus haben sie mich zu einer permanenten Wachsamkeit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen erzogen, weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Und natürlich bin ich auch von den 68ern unter meinen Lehrern entsprechend geprägt worden.

Sie sagen, da sei eine Minderheit am Werk. Wie kann die derart erfolgreich sein, wie Sie es beschreiben?

Sie sitzt inzwischen an den Schaltstellen unsres geistigen Lebens – nachdem sie den Marsch durch die Instanzen gemacht hat, ähnlich wie damals die 68er: von den Universitäten in die Medien und die verschiedenen Kunstsparten, inzwischen auch schon in Schulen und Stadtverwaltungen. Dort gibt sie auf eine sehr selbstbewusste Weise den Ton an und fühlt sich berufen, ihre Kriterien auch in allen anderen gesellschaftlichen Gruppierungen durchzusetzen – Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich ja schon immer als Avantgarde verstanden. Die heutigen Avantgarden kämpfen aber nicht mehr mit den besseren Argumenten.

Sondern?

Mit den stärkeren Emotionen, und vor allem locken sie nicht mit Sex and Drugs and Rock’n’Roll, sondern sie verbreiten Angst: die Angst, von Freunden geächtet zu werden, von Arbeitskollegen gemobbt, bei Twitter an den Pranger gestellt. Kein Wunder, dass die meisten lieber schweigen, als die eigene Ausgrenzung zu riskieren; ausgerechnet die liberale Mitte unsrer Gesellschaft hört man im öffentlichen Gespräch kaum noch. Auch früher hat man sich ordentlich gezofft, aber man wollte einander nicht vernichten.

Der Termin

Podiumsdiskussion „Reisen und Meinungsfreiheit“ mit Ralf Nestmeyer, Matthias Politycki und Tina Uebel, es moderiert Jan Ehlert (NDR): Mi, 9.3., 19 Uhr, Hamburg, Nochtspeicher (2G+)

Und das sehen Sie in Gefahr durch das, was heute so gerne Cancel Culture genannt wird?

Ja. Ich bin bei jedem neuen Fall erstaunt, wie mutwillig das Wesen der Kunst missverstanden wird und wie sehr etwa die Fähigkeit verlorengegangen ist, mit Ironie umzugehen. Ironie ist ein ganz wesentlicher, vielleicht sogar der wesentlichste Teil unserer DNA als 78er-Generation: vielleicht um die weltanschauliche Fronten, zwischen denen wir groß wurden, von vornherein aufzulockern; um festgefahrene Positionen beweglich zu machen und dadurch auch verhandelbar. Überhaupt scheint mir der Umgang mit literarischen Texten auf ein vorintellektuelles Niveau gefallen zu sein, man nimmt sie heute immer häufiger beim Wort, selbst Figurenrede wird so gelesen, als habe sich hier der Autor selbst geäußert. Und schon wird er für Aussagen verurteilt, die er beispielsweise einem Verbrecher in den Mund gelegt hat.

Sie leben seit dem vergangenen Frühjahr in Wien. Hat sich eingelöst, was Sie sich davon erhofft hatten?

Ja, die Freude an der Sprache ist zurückgekehrt. Aber der Preis dafür ist hoch. Meine Frau ist beruflich an Hamburg gebunden, wir müssen wieder pendeln wie vor 30 Jahren. Natürlich genieße ich die Wiener Art des Sprechens, sie sorgt nicht nur für einen verbindlicheren Ton, sie verändert auch die Gedanken. Schon im Süden Deutschlands wird jeder Aussage durch die Vorliebe für konjunktivische Formulierungen an Schärfe genommen, in Wien kommt eine Eloquenz dazu, die selbst klare Thesen gegen Ende der Argumentation auf eine charmante Weise in ihr Gegenteil verkehrt. Mitunter höre ich in den politischen Kommentaren die Wendung, dieses oder jenes sei „wieder mal eine typisch österreichische Lösung“. Man meint damit: halt nur ein Kompromiss, etwa eine Reform, die als große Vision gestartet und als Reförmchen geendet ist. Aber die Lebendigkeit einer Demokratie zeigt sich gerade in der Fähigkeit zu Kompromissen; jeder beklagt sie zunächst aus seiner Warte, am Ende arrangiert man sich damit.

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