piwik no script img

Auf die Plätze, fertig, stopp!

Foto: Michael Kempf/imago

Es begab sich zu einer Zeit, in der ein direkter Weg vom Sportunterricht in die Kriegsdienstverweigerung führte: In den siebziger und achtziger Jahren der Bundesrepublik stand der Schulsport mitunter noch recht deutlich im Zeichen paramilitärischer Wehrertüchtigung. Mit uniformierter Kleidung (Jungs: blaue Hose, weißes T-Shirt; Mädchen: nicht so wichtig) und Kugelstoßen, das den Handgranatenweitwurf antizipierte. Damals, als noch mit dem Schlüsselbund nach Schülern geworfen wurde, Kinder per Gebrüll über zu hohe Böcke und Kästen gehetzt und Schülerinnen bei der „Hilfestellung“ von männlichen Lehrern zwischen die Beine gegrabscht wurde.

Früher? Turnvater Jahn? Lange vorbei? Die Journalismus-Plattform „Krautreporter“ hat jüngst ihre Community befragt, warum sie in ihrer Schulzeit Angst vor dem Sportunterricht hatten. 5.600 Menschen haben geantwortet – laut „Krautreporter“ Beteiligungsrekord. Le­se­r:in­nen erzählen von unerbittlichen Lehrkräften, körperlichen Einschränkungen und Verletzungen, auf die keine Rücksicht genommen wurde. Sie schreiben über unangenehme Situationen in der Umkleide und die Angst, vor den Klas­sen­ka­me­ra­d:in­nen zu versagen. Und ja: Immer wieder über­traten Sport­leh­re­r die Grenze zum sexualisierten Übergriff.

Noch immer hält sich solch autoritärer Ungeist in deutschen Turnhallen wie der Muff in ungelüfteten Umkleidekabinen. Glücklich die Erwachsenen, die nach eigenem Gusto Yoga ausüben oder das Gym nutzen können – wenn ihnen der Schulsport nicht die Freude an jeglicher körperlichen Betätigung genommen hat.

Doch es gibt auch Hoffnung: Immer mehr Sport­päd­ago­g:in­nen kritisieren zum Beispiel das Völkerballspiel. Die Britin Joy Butler bezeichnete das Spiel gar als „legalisiertes Mobbing und organisierten Rassismus“ und fordert, das Spiel aus den Lehrplänen zu streichen. Denn Völkerball verfolge einzig das Ziel, andere zu treffen und auch verletzen zu wollen, Schwächere zu stigma­tisieren und ­Menschen anderer Hautfarbe und Aussehens zu diskriminieren.

Auch ich erinnere mich daran, dass genau die Typen, die mich bei der Mannschaftseinteilung nicht gewählt und dann oft auf der Bank haben sitzen lassen, beim Völkerball umso aggressiver mit dem Ball auf mein Gesicht zielten. Aber auch dort war ich meist der Letzte. Sie haben mich nicht gekriegt. Überleben ist alles.

Martin Reichert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen