kritisch gesehen: Gesungene Adoleszenz-Erfahrungen
Hier fallen Worte wie Bomben“, singt der Chor. Hier, das ist eine Schule im schwedischen Dörfchen Åmål: Die Masken, die viele der Jugendlichen tragen müssen, wegen Corona: Sie wirken wie perfekte Requisiten für ein soziales Umfeld, in dem sich niemand traut, sein wahres Gesicht zu zeigen. Hier also verliebt sich die schüchterne Agnes (Kady Evanyshyn) in Elin (Larissa Wäspy) – unter Menschen, die das Wort „lesbisch“ sofort mit Aids in Verbindung bringen.
Das ist das Setting der Jugendoper „Fucking Åmål – Unser kleines Scheißkaff“, die am 21. Januar in Hamburg uraufgeführt wurde. Heranwachsen ist selten leicht, aber es wird noch schwerer für jene, die nicht den heteronormativen Vorstellungen ihrer Gesellschaft entsprechen: Schließlich, auch das lässt hier der Chor wissen, lautet in so einem Scheißkaff eine der wichtigsten Regeln: Bloß nicht auffallen!
Außergewöhnlich und daher auch auffallend war jedoch die Aufführung am Dienstag in der Hamburger Staatsoper. Wegen des Ausfalls des Orchesters wurden die Singenden musikalisch ausschließlich auf dem Klavier begleitet. In den Augenblicken ohne Gesang erinnerte diese Untermalung zuweilen an deutsche Stummfilme aus den 1920er-Jahren. Die grellen, knallbunten Kostüme der Darsteller*innen verhinderten allerdings, dass sich weitere Ähnlichkeiten mit der Epoche der Schwarz-Weiß-Bilder aufdrängten. Letztlich gelang dem Ensemble auch ohne orchestrale Unterstützung eine gelungene Aufführung, bei der die minimalistische musikalische Begleitung dem Geschehen auf der Bühne womöglich sogar einen melancholischeren Charakter verlieh.
Den Stoff liefert Lukas Moodyssons Film „Raus aus Åmål“ – im Original ebenfalls „Fucking Åmål“ – aus dem Jahr 1998. Alexander Riemenschneiders Inszenierung erzählt diese Geschichte nun erstmals als Oper. Die Musik stammt von dem in Hamburg lebenden Samuel Penderbayne: mal ganz klassisch, dann wieder beinahe musicalhaft klingt sie; beispielsweise, wenn Agnes singend darlegt, dass ihre einzige Superkraft wohl die Unsichtbarkeit ist. Eindrucksvoll vermittelt wird die Erfahrung, anders zu sein in der Enge einer Dorfgemeinschaft, durch die wunderbare Leistung der kanadischen Darstellerin Kady Evanyshyn, die all die Verzweiflung und, irgendwann, die Wut der erst so schüchternen Protagonistin Agnes auf die Bühne bringt.
„Fucking Åmål – Unser kleines Scheißkaff“ wirft einen kein bisschen nostalgisch verklärten Blick auf die Zeit der Adoleszenz. Vielmehr werden die Verletzungen und der soziale Anpassungszwang gezeigt, die für viele in diesem Alter so prägend sind. Inszenatorisch vermischen sich dabei Vergangenheit und Gegenwart: So taucht neben den höchst heutigen Masken auch mal ein Smartphone auf, aber vieles an den Kostümen (Lili Wanner) wie auch die Frisuren erinnern wiederum an die 1960er- und 1970er-Jahre. Dieser visuellen Gestaltung entspricht der aktuelle, aber nicht daran gebundene Inhalt: Auch dieses Stück, gerichtet an ein Publikum ab 14 Jahren, erzählt von den Themen, um die sich Opern seit Jahrhunderten drehen: Liebe, Intrige und Missverständniss. Lenard Brar Manthey Rojas
„Fucking Åmål – Unser kleines Scheißkaff“: Fr, 28. 1., 19.30 Uhr; Sa, 29. 1., 17 Uhr; So, 30. 1., 16 Uhr; Hamburg, Staatsoper (2G+)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen