„Europe“ auf der Berlinale: Erzwungene Fiktion
„Europe“ ist der erste Spielfilm des Dokumentarfilmers Philip Scheffner. Er folgt dem Schicksal einer nach Frankreich migrierten Algerierin.
Zu Beginn zwei Röntgenbilder einer deformierten, von Stahlklammern gehaltenen Wirbelsäule. Dann schaut die Kamera aus dem Obergeschoss durch die gläserne Fassade hinaus auf den Vorplatz eines modernen Krankenhauses. Aus dem Off sind Regieanweisungen zu hören („den Bus losfahren …“). Und ein Dialog – vermutlich zwischen dem Filmemacher und seiner Hauptdarstellerin – über ihr Verhältnis zu ihrer Rolle.
Währenddessen sehen wir unten eine junge Frau aus dem mittlerweile angekommenen Bus steigen und zum Eingang laufen. Als dieser losfährt, tritt sie oben frontal vor der Kamera aus dem Lift und geht nach links aus dem Bild.
Im folgenden Gespräch mit ihrem Arzt zeigt Zohra Hamadi Humor und Selbstbewusstsein. Sie bekommt die gute Nachricht, dass sie keine weiteren Operationen benötige und ein Aquatraining zur Reha machen solle. Als ihr auf dem Heimweg im Bus der Fahrer eine „Kämpfernatur“ attestiert, lächelt sie stolz.
Später erzählt sie ihren aus Algerien nach Frankreich eingewanderten Verwandten von ihrem Erfolg sowie dem Ehemann – per Telefon, denn er ist noch in der alten Heimat, soll aber nach der erwarteten Verlängerung von Zohras Aufenthaltsgenehmigung nachkommen. Doch statt dieser kommt die Aufforderung zur Ausreise, da es nach der gesundheitlichen Besserung keinen Grund mehr für den Aufenthalt in Frankreich gebe.
„Europe“ ist Titel des Films und einer Bushaltestelle
„Europe“ heißt die Bushaltestelle, an der Zohra aussteigt. Das ist dokumentarisches Finderglück, auch wenn „Europe“ eigentlich der erste Spielfilm von Philip Scheffner ist. Denn die Station „Europe“ gibt es auf der Buslinie vom „Hôpital“ zum „Forêt“ im südwestfranzösischen Châtellerault wirklich.
14. 2., 17.30 Uhr, AdK
18. 2., 12 Uhr, Cinemaxx 5
Und auch sonst gründet der Film auf dokumentarischer Recherche – und kann als Spin-off von Scheffners „Havarie“ verstanden werden, in dem autobiografische Berichte der jungen, nach Frankreich migrierten Algerierin Rhim Ibrir ein Bestandteil des aus dem Off erzählten Tongewebes waren.
Dem Team um Scheffner und Autorin Merle Kröger war die starke Präsenz von Ibrir vor der Kamera beim Dreh in Erinnerung geblieben. Auch deswegen rückte die junge Frau ins Zentrum ihres nächsten Projekts. Doch ein „klassisch dokumentarisches Vorgehen“ hätte die Situation der Heldin in der durch die Ausweisung erzwungenen Illegalität nur verschleiert, meint Scheffner im Interview und spricht von „staatlich erzwungener Fiktionalisierung“ in ihrem Leben und folgerichtig auch im Film.
Aus Rhim Ibrir wurde also die von ihr gespielte Figur Zohra. Und aus den begleitend dokumentierten Beschwernissen eines illegalen Lebens eine Erzählung, die die Kamera von Volker Sattler mit langen unbewegten Einstellungen, raffinierter Lichtsetzung und tiefengestaffelten Rahmungen kunstvoll in Szene setzt.
Dabei wird der Film zunehmend durch narrative Leerstellen und Irritationen im Realitätsstatus des Gezeigten verunsichert. So verschwindet Zohra erst zeitweilig ganz aus Bild und Ton und kehrt dann als Wachwunschträumerin zurück. Das so konstruierte asymmetrische Triptychon gibt dem Publikum guten Anlass für Austausch und nachgängige Gedankenspiele, würde vielleicht aber besser als Installation denn im Kino funktionieren.
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