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Deutschestes Delirium

In Oldenburg und am Landestheater Schleswig-Holstein steht der „Faust“ auf dem Programm. Beide Inszenierungen machen manches richtig, sind aber kein großer Wurf

Unersättlich ist er halt, von einer Erlebnissensation zur nächsten hetzend. Aber nur Selbstentfremdung erlebt er. Faust ist die Geschichte einer Selbstzerstörung

Von Jens Fischer

Da ist er wieder, ach! Der Klassiker schlechthin auf nicht nur norddeutschen Bühnen, nihilistischer Weltentwurf, Nationalepos, Zitatenschatz, Nazifetisch; auch philosophische Subjektstudie eines Edelgelehrten im unermüdlichen Vervollkommnungsdrange – mithin vielleicht DER Identifikationsfigur etlicher Bildungsbürger-Generationen: Doktor Heinrich Faust. Einerseits Radikalindividualist mit Allmachtsfantasien, kann er, andererseits, in so wunderschönen Versen vergeblich grübeln, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Bemitleidenswert missmutig intoniert auch Jens Frederik Ochlast am Staatstheater Oldenburg den „Habe nun, ach, …“-Monolog, und sieht dabei im schäbigen Laborkittel und mit zerzauster Perücke wie ein verwirrter Chemielehrer aus. Ganz anders, nämlich angeekelt und willensstark wütet Faust hingegen am Theater Rendsburg (und später auch noch den anderen Spielstätten des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters) gegen die Kränkung des begrenzten Daseins: Im dortigen „Urfaust“ – „ergänzt durch Passagen aus Faust I“ – spielt Simon Keel ihn als modern beanzugten W3-Professor. Und wenn er sich der Magie ergeben will und den Erdgeist anruft, erscheint der nicht als Märchenunwesen, sondern als konvulsivisch vibrierendes Blick-aus-dem-Kosmos-Video.

In Oldenburg wiederum erhebt sich der Erdgeist als riesiger Lebkuchenmann aus erdbedecktem Bühnenboden. Zum teuflischen Pakt stürzen sich später Mephisto und eine Meute gieriger Bestien auf den Faust, beißen zu, roter Lebenssaft fließt. Schon stürzt sich der Doktor in den Rausch der Zeiten und landet in Auerbachs Keller. Dafür treibt das Ensemble in Muskelprotzkostümen Tik-Tok-Gymnastik. In Rendsburg torkelt und pöbelt an entsprechender Stelle nur eine Säufernase durchs Bild. Und wenn Faust Gretchens Bruder mordet, ist das dort ein richtiger Zweikampf Mann gegen Mann – in Oldenburg hingegen bombastischer Zinnober mit fliegenden Messerscharen.

Mit Milena Paulovics’Inszenierung des derberen „Urfaust“ versucht das kleine Landestheater in konzentrierender Bescheidenheit und zeitgenössischer Klarheit die Figuren zu ergründen. In Oldenburg setzt das Staatstheater für seinen „Faust I“ auf opulente Puppen-Figurinen, grellbuntes Licht, Nebel, Feuerwerk, Schattenspiel, Stroboskopblitze, Volkstanzaufmarsch, rappende Hexe und Wasserfontänen-Choreografie. Regisseur Robert Gerloff will mit Pop-Pomp auf den volkstheatralen Urgrund der Parabel um den mittelalterlichen Alchimisten verweisen. Premiere hatte dieser Zugriff schon vor zwei Jahren, dann verbannten die Coronamaßnahmen ihn ins Archiv. Nun fehlt Lucifer-Mephista-Darstellerin Agnes Kammerer: Sie ist inzwischen ans Schauspiel Frankfurt gewechselt. Ihre schwarze Ledermontur trägt keck stolzierend Julia Friede. Die Rendsburger Inszenierung teilt die diabolische Rolle auf: Zwei abgerissene Gruftie-Typen, hager-groß und mollig-klein geben ein Buddy-Duo und können so mehr Bewegung, Witz und Facetten ins Spiel bringen.

Hier wie dort sind die Bühnen zum Räsonieren angenehm leer. In Rendsburg stehen leitmotivisch Buchstaben herum, ergeben das Wort „Rausch“. Faust also als Schlüsselmythos der Moderne, als Vertreter einer rasenden Gesellschaft des Vergessens? Dank Teufelspakt bekommt der Antiheld dafür stetig neue Kicks geliefert. Diesen Lebensweg besingt er mit den beiden Teufelsherren als „Highway to Hell“ in einer üblen Karaoke-Version, nimmt den Verjüngungstrank aus Hexenhand und versinkt erst mal in discodröhnendes Delirium. Er bleibt aber der graumelierter Beau im fünften Lebensjahrzehnt.

In Oldenburg wird Faust tatsächlich smart und viril: Johannes Schumacher übernimmt die Rolle als jugendlicher Liebhaber ohne jede Selbstübersteigerungsenergie. Auch das begehrte Gretchen (Rebecca Seidel) ist ihm kein tumbes Ding, sondern durchaus emanzipiert unter der geflochtenen, klischeeironisch überdimensionierten Blondhaarperücke. Beide spielen schüchtern und überwältigt: plötzlich verliebt.

Der fortgesetzt alte Faust macht in Rendsburg die Gretchen-Tragödie hingegen schwierig: Lucie Gieseler spielt die Rolle wie von Goethe vorgeschrieben als verträumte 14-Jährige, die sich bei der romantischen Gute-Nacht-Ballade „Der König in Thule“ selbsterotisierend streichelt. Mädchenhaft auf passive Rollen fixiert, liebt sie sofort die tatkräftige, rastlos neugierige Männlichkeit, was nicht niedlich, sondern justiziabel gerät: Der alte geile Bock schwärmt von „Gier auf ihren süßen Leib“ und verführt die ahnungs- wie wehrlose, staunende Minderjährige; die Mephistos steuern einen Pornosoundtrack bei. Gespielt ist das lieblich, ja: warmherzig. Als illusionslose Darstellung von Missbrauch? Als Provokation, nämlich Plädoyer für das Recht auf Sex mit Kindern? Als naiver Glaube an die alles überwindende Macht der Herzensregungen? Oder soll die nicht erkennbar kritisch gebrochene Szene gerade dadurch noch widerwärtiger wirken? Funktioniert nicht, wirkt unangenehm unreflektiert.

Betörend dann die finale Kerkerszene: Faust als Galan gibt den Befreier, bevor Gretchens „Gerichtet“-Urteil ertönt, weil sie beider Kind ertränkt hat – aus Verzweiflung, für ihn nur ein Kick gewesen zu sein. In Oldenburg gibt’s kein „gerichtet“, auch kein göttliches „gerettet“, es gibt nur Empörung: Die Aufführung endet mit „Heinrich, mir graut’s vor dir“. In beiden Fällen stürmt der nach dem letzten Wort von der Bühne – hin zu weiteren Abenteuern. Unersättlich ist er halt, von einer Erlebnissensation zur nächsten hetzend, um Selbstentfaltung und Weltbemächtigung zu vereinen. Aber nur Selbstentfremdung erlebt er im Machtgewinn über Menschen und Natur. Faust ist die Geschichte einer Selbstzerstörung.

Wirklich ins Grenzenlose – Genuss, Begierde, Ekstase – brechen beide Arbeiten nicht auf. Ebenso wenig zum Plädoyer für ein stilles, zu sich selbst kommendes Bewusstsein. Die eine Inszenierung, die in Schleswig-Holstein, beeindruckt durch ihr vergegenwärtigtes Personal, lässt aber in der Gretchen-Tragödie Haltung vermissen. Und in Oldenburg setzt man vor allem auf einen unverbindlichen Bilderbogen.

Kein Zauber, nirgends.

„Urfaust“(ergänzt durch Passagen aus Faust I) am Landestheater Schleswig-Holstein: www.sh-landestheater.de/stuecke/urfaust

„Faust. Eine Tragödie“ in Oldenburg: https://staatstheater.de/programm/schauspiel/stuecke/faust-eine-tragoedie

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