Leben in der Evakuierungszone: Kinder der Kernkraft
Am Silvesterabend wird der letzte Block des AKW Gundremmingen abgeschaltet. Erinnerungen an eine Jugend im Schatten der Kühltürme.
A ls ich ins Schiff ging, regnete es. Ich beeilte mich, weil Regen der natürliche Feind meiner Frisur war. Deren Witz bestand in guter Punktradition darin, die Haare möglichst wild nach oben stehen zu lassen. Das Schiff, zu dem mich nun etwas schnellere Schritte als sonst trugen, war seit einiger Zeit mein Wohnzimmer geworden. In dieser Beiz trafen sich Leute, die von braven Bürgern und deren Nachwuchs gern als „Penner“ bezeichnet wurden. Also langhaarige Freaks und Ökos, ein paar junge Punks und Waver – und dazwischen viele, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie lieber erdverbunden den Hippietraum träumen oder sich grell kostümiert den Realitäten stellen wollten.
Das Hausblatt vom Schiff war die taz. Der Soundtrack vom Schiff war das Livealbum der Talking Heads. „Psycho Killer, qu'est-ce que c'est?“, hieß es jeden Abend, weil die Talking Heads die Lieblingsband von Wirtin Vroni waren. Das wichtigste Thema an diesem Donnerstagabend im April 1986 wird wohl die Reaktorkatastrophe gewesen sein. Bevor ich das Haus Richtung Schiff verließ, hatte die „Tagesschau“ gemeldet, dass die Atomwolke nun über Süddeutschland angekommen war.
Die Ironie an der Sache war, dass der atomare Fallout aus der Sowjetunion herüberwehte. Er kam aus dem Ort Tschernobyl, hieß es. Nach der Explosion eines Reaktorkerns hatte es dessen Deckel weggesprengt. Radioaktiver Staub war in die Atmosphäre geschleudert worden und verteilte sich nun über den Erdball. So viel zur sicheren Technologie der Kernenergie, die unser Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, der einst Bundesatomminister gewesen war, den Bayern als christliche zu verkaufen gewusst hatte: „Ein gläubiger und verantwortungsbewusster Christ kann mit guten Gründen der Überzeugung sein, dass auch ein Kraftwerk ein Teil des göttlichen Auftrags ist.“ Strauß war nie um eine Antwort verlegen, er hatte auch zu Tschernobyl eine gute parat: Eine „kommunistische Reaktorkatastrophe“ sei das.
Uns erschien der kommunistische Fallout gerade deshalb so ironisch: Weil wir in Dillingen ja ein eigenes AKW vor der Haustür hatten. Weniger als 10 Kilometer Luftlinie vom Elternhaus und vom Schiff entfernt, die beide in der Evakuierungszone lagen. Wenn es bei uns radioaktiven Niederschlag geben würde, so hätte man bis zu diesem Abend angenommen, dann käme der doch wohl vom Atomkraftwerk Gundremmingen, nicht aus der Ukraine.
Zu Besuch bei der letzten regulären Mahnwache
Knapp 40 Jahre später stößt nur noch einer der beiden Kühltürme des AKW Gundremmingen Dampf aus. Block B wurde wegen des anstehenden Atomausstiegs bereits 2017 abgeschaltet. Als ich mit meinem Vater beim Kraftwerk ankomme, ist es dermaßen diesig, dass man die Türme nicht sehen kann. Im Herbst und Winter ist das im Donautal normal. Es ist Sonntag, zweiter Weihnachtsfeiertag, kurz nach drei. Wir wollen der letzten regulären Mahnwache vor dem Tor des AKW Gundremmingen beiwohnen. An Silvester soll auch Block C für immer abgeschaltet werden. Ich war das letzte Mal hier, als kurz nach Tschernobyl eine Großdemo stattfand, erinnere ich mich jetzt.
Thomas Wolf war damals auch dabei, und jetzt steht er vor uns, am Haupteingang des AKWs. Weißer Bart, schwarze Jeans, schwarzer Dufflecoat. Angeblich trägt er immer schwarz. Thomas Wolf steht seit knapp 30 Jahren jeden Sonntag um drei hier. Die Demos an den Jahrestagen von Tschernobyl seien von Jahr zu Jahr kleiner geworden, erzählt er. Seit 1989 versammelte sich aber auch eine Gruppe religiös motivierter Menschen aus der Gegend jeden Sonntag zur Mahnwache. Obwohl er Atheist ist, fand Wolf die Mahnwachengruppe gut, die sich wie er dem gewaltfreien Widerstand gegen die Atomwirtschaft verpflichtet fühlte: „Es isch a Verbrecha, dass ma AKWs betreibt.“
Wolf hat sich über die Jahrzehnte viel Wissen über die Gefahren der Atomkraft angeeignet. Das Schlimmste, was er persönlich in Augenschein genommen hat, war die Wiederaufbereitungsanlage im britischen Sellafield. Wenn eine neue Generation von Atomkraftfans von „sauberer“ Energie schwärmt, verweist er außerdem auf die massiven ökologischen Folgen des Uranabbaus. Er hält die Atomenergie für eine Dinosauriertechnik, schon allein, weil 60 Prozent der produzierten thermischen Energie sinnlos in die Luft geblasen wird.
Es ist kalt und still, kein Mensch zu sehen, auch der Wachschutz nicht. Wenn wir nicht gekommen wären, stünde Thomas Wolf allein da. Das kommt öfter vor. Im breiten Schwäbisch der Gegend erzählt er, den manche hier „Atom-Wolf“ nennen, dass er am Sonntagnachmittag auch gern woanders wäre. Seine Mahnwachenfehltage könne er aber an den Fingern einer Hand abzählen. Und dann sagt er, was er allen sagt, die ihn fragen, warum er jeden Sonntag hier steht: „Wenn Ihnen ein Stück vom Zahn abbricht, können Sie's nicht lassen, mit der Zunge immer wieder hinzugehen, auch wenn die Ihnen bald wehtut. So geht’s mir mit dem AKW.“ Er kann nicht anders, er fühlt sich verpflichtet. Wenn er und seine Freunde aufhören würden zu kommen, wäre das für viele andere ein schlechtes Zeichen, meint er. „Viele sagen mir: Du stehst auch für uns dort.“
Er steht auch für mich dort, denn so nah dran am AKW war ich noch nie, fällt mir auf. Dabei war es in meiner Jugend immer präsent, sobald man die engen Gassen der Stadt verließ. Ich bin mit ihm aufgewachsen, ich bin ein Kind des Atomzeitalters. Unser AKW war nicht zu übersehen, es war Deutschlands erstes Großkernkraftwerk. Die Bewohner des Dorfs Gundremmmingen waren so froh über die Gewerbesteuern und den Status als Technologiestandort, dass sie ein Atom ins Ortswappen aufgenommen haben.
Ein Atom im Dorfwappen
Als ich das Wappen zum ersten Mal sah, fand ich das konsequent von den Gundremmingern. Nicht uncool jedenfalls, so ein Atom im Dorfwappen. Das AKW selbst erschien mir schön, wie alle Dinge, die funktional gestaltet sind. Block A sah so aus, wie man sich ein Atomkraftwerk vorstellte. Eine runde Kuppel aus grauem Beton plus Schornstein.
Das Atomei passte gut in die Donaulandschaft. Der Fluss, der seit Menschengedenken durch das Tal mäandert war, wurde bei uns bereits im 19. Jahrhundert kanalisiert. Weswegen im 20. Jahrhundert überall im Tal nach Kies gebaggert werden konnte. Der Kies wurde in Beton verbaut, und wir konnten nackt in den Baggerseen schwimmen. Drumherum moderne Landwirtschaft, die den Schmetterlingen langsam den Garaus machte. Das AKW war das I-Tüpfelchen, das sich in diese Kulturlandschaft wie die Faust aufs Auge schmiegte. Zwei Jahre vor meiner Geburt, im Dezember 1966, war es in Betrieb genommen worden. Elf Jahre später, 1977, ereignete sich eine Havarie in Block A, bei der radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem Reaktor austrat. Das war der erste Großunfall eines Atomkraftwerks in Deutschland, wirtschaftlicher Totalschaden. Block A produzierte nie wieder Strom.
Die Havarie von 1977 hielt den Fortschritt nicht auf. Unser Erdkundelehrer, ganz auf CSU-Linie, machte sich über Deppen lustig, „die meinen, dass der Strom aus der Steckdose kommt“. Seine Witze über grüne Spinner lächelten wir weg, weil sie für uns der Ausdruck einer Gesellschaft waren, deren gestanzte Denkfiguren nur mehr Klischees und also nicht mehr realitätstüchtig waren. Da standen in Gundremmingen schon die Blöcke B und C, zwei eher unscheinbare weiße Zylinder. Hinter ihnen aber zwei 161 Meter hohe Kühltürme, die wir beim Baden nun sogar im Liegen sehen konnten, wie sie südlich von uns in den Himmel ragten.
Das AKW Gundremmingen erzeugte gut ein Viertel des in Bayern verbrauchten Stroms, was wir nicht wussten, und produzierte bei klarem Wetter schöne weiße Wolken, die sich vom blauen Himmel abhoben. Im Schiff verwandelten sich derweil ein paar Leute in autonome Kämpfer, als es darum ging, die Atommüll-Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu verhindern. Sie erzählten stolz von Schlachten mit der Polizei und davon, wie man eine Zwille bedient. Jungs halt. Oder Buaba, wie man bei uns sagt.
Die schwäbische Art, mit Konflikten umzugehen
Thomas Wolf war auch hin und wieder im Schiff, erzählt er, begegnet sind wir uns da nie. Er war bei Hausbesetzungen in Berlin dabei, aber von Gewalt hält er nichts: „Vielleicht bin ich konfliktscheu, aber ich spreche lieber mit den Leuten.“ Außerdem sei er halt „a guat erzogener schwäbischer Bua“: Sachen kaputt machen geht nicht. Der Wachschutz (von dem immer noch nichts zu sehen ist) oder die Polizei sind für ihn keine Gegner. Er hat volles Vertrauen in die Beschäftigten vom AKW, dass sie alles dafür tun, dass nichts passiert.
Es hat eine Zeit gedauert, bis sich die Polizei an die Mahnwache gewöhnt hat, sagt Wolf, aber schon lange gehe man vertrauensvoll miteinander um. Die Polizei begreift von der Mahnwache organisierte Aktionen des zivilen Ungehorsams inzwischen als das, was sie sind: symbolischer Widerstand. Bei einer Gleisbegehung ließen die Vertreter der Exekutive den Protestierenden dann etwa die Wahl, ob diese sich am Polizei-Checkpoint auf dem Gleis ausweisen und damit eine Anzeige kassieren, oder lieber um die Polizisten herumlaufen wollten, erzählt Wolf. Vielleicht ist das die schwäbische Art, mit Konflikten umzugehen.
Thomas Wolf ist froh und glücklich, dass Gundremmingen jetzt abgeschaltet wird. Immerhin habe er länger durchgehalten als das AKW, sagt er verschmitzt. Die Party, die er deswegen gern organisiert hätte, muss fürs Erste ausfallen, aber an Silvester wird es eine letzte Mahnwache geben, die sich gegen den Betrieb des Atomkraftwerks richtet. Allerdings wird das Gelände noch sehr lange als Zwischenlager dienen müssen. Offiziell bis 2046, bis dahin ist das Zwischenlager genehmigt. Aber noch gibt es kein Endlager in Deutschland. Wolf glaubt den Experten, die voraussagen, dass es noch gut vierzig, vielleicht aber auch sechzig Jahre dauern wird, bis der letzte Atommüllbehälter die Anlage verlassen haben wird. Zum Atommüll sagt er: „Mir fällt er nimmer auf’d Fiaß. Aber eich und eire Kindr fällt er auf’d Fiaß.“ Ab jetzt wird es nur noch einmal im Monat Mahnwache in Gundremmingen geben, dann vor der Halle des Zwischenlagers.
Was am Tschernobyl-Abend im Schiff noch los war, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich haben wir Vroni irgendwann genötigt, eines unserer Mixtapes zu spielen, weil die Talking Heads ja schon durch waren, und haben noch ein Bier bestellt. Als ich am 1. Mai 1986 in der Früh die Beiz in Richtung Bett verließ, ahnte ich aber, dass mit dem Niederschlag radioaktives Material auf die Felder, Wiesen, Straßen, Häuser und also auch auf mich und meine Billy-Idol-Frisur herunter geregnet war.
So war es auch. Es handelte sich um Jod-131, Halbwertszeit acht Tage, Cäsium-134, Halbwertszeit zwei Jahre, und Cäsium-137, Halbwertszeit 30 Jahre. Zu Hause duschte ich lange und warf meine Klamotten in die Waschmaschine. Dekontaminiert legte ich mich schlafen.
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