Tod von Joan Didion: Das Spiel ist aus
Joan Didion ist tot, unsere Autorin ist geknickt. Halt findet sie in den Alltagsbeobachtungen von Didion selbst.
E s sind diese Tage zwischen den Jahren, an denen gefühlt nichts passiert, an denen aber natürlich alles passiert, nur dass wir uns erlauben, davon nichts mitzubekommen. Ich sitze im Haus meiner Eltern, in dem ich nie gelebt habe, und starre die Wand an.
Normalerweise würde ich die Schuhkartons mit den alten Fotos rauskramen, diese aus der Zeit gefallene letzte Kalenderwoche nutzen, um in Erinnerungen zu schwelgen und Dinge zu machen, die nichts mit Zukunft zu tun haben. Aber mir ist nicht nach Nostalgie. Und mit Anbruch des dritten Pandemiejahres ist mir am allerwenigsten nach dem Jetzt.
Ich muss an einen Satz von Joan Didion denken. „Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf.“ Ich muss oft an Sätze von Joan Didion denken. Sie ist die Art von Autorin, deren Stimme sich in meinem Kopf wie eine ständige Gesprächspartnerin festgesetzt hat. Das hat etwas mit ihrem Stil zu tun, mit der Art, wie Didion von Situationen schreibt, in denen sie sich selbst befunden hat.
Sie ist da, aber nur zum Beobachten. Sie greift nicht aktiv ins Geschehen ein und doch ist ihr Blick auf die Dinge und sich selbst so ehrlich und unverkennbar, dass ihre Texte ständig in mein Leben einzugreifen scheinen. Ist hinzusehen und die Dinge zu benennen vielleicht doch mehr Aktion, als ich in letzter Zeit oft meine?
„Man setzt sich zum Abendessen und das Leben, das man kennt, hört auf.“ Der Satz bezieht sich auf den Verlust von Normalität, als Didion ihren Ehemann verliert. Zugleich wird der Autorin klar, dass es diese Normalität, oder besser Alltäglichkeit, nach der sie sich zurücksehnt, so nie gegeben hat. Ja, dass im Grunde nichts alltäglicher ist als der Tod selbst, nur dass wir uns eben erlauben, solange es geht, davon nichts mitzubekommen.
In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?
Mit jeder Nachricht einer neuen Mutation sinkt die Hoffnung, dass die Pandemie in absehbarer Zeit enden wird. Und so lässt sich für 2022 schon prognostizieren: Menschen werden sich infizieren, genesenen und sterben, andere werden ihr Zuhause nicht verlassen, um sich und ihr Umfeld zu schützen. Wieder andere werden so tun, als sei das alles eine Lüge. Es ist nichts verwerflich daran, dass sich unter diesen Umständen viele zurücksehnen in eine Zeit, in der alles noch „normal“ war. Bloß: Wann soll das gewesen sein?
Viele sagen ja, dass das grausige Pandemiemanagement Probleme, die schon da waren, einfach weiter verschärft, beschleunigt und für die Mehrheit offengelegt hat. Es wurden schon vorher Menschen ausgebeutet und gefährdet zugunsten von Profiten. Natur und Lebensgrundlagen wurden bereits lange vor der Pandemie zerstört. Es war nur etwas einfacher, sich abzulenken, nicht genau hinzusehen.
Insofern ist es vielleicht gar nicht die „Normalität“, der wir hinterhertrauern, sondern vielmehr unsere verlorene Naivität. Dass wir dachten, ja, wir müssten vieles ändern, aber es würde schon alles okay sein. Vielleicht sollten wir aufhören, uns zu fragen, wann die Pandemie enden wird. Vielleicht geht es stattdessen um die Frage: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben und was ist dafür zu tun? Nicht irgendwann, wenn alles „vorbei“ und „okay“ ist. Sondern jetzt. Mitten in der Trauer.
Ich war geknickt ein Tag vor Heiligabend, als bekannt wurde, dass Joan Didion im Alter von 87 Jahren starb. Schließlich gehören ihre Sätze seit Jahren zu meinem Alltag. Aber allein mir in Erinnerung zu rufen, wie unerbittlich Didion sich erst mit dem Tod ihres Mannes und dann mit dem ihrer Tochter auseinandergesetzt hat in zwei wunderschönen, aufeinanderfolgenden Büchern, erleichterte mich ein bisschen. Ganz so, als ob Didion sich mit ihrem Hinsehen die Angst vor dem eigenen Sterben genommen haben musste. Ich glaube, sie starb friedlich und im Reinen mit sich – wenn auch nicht mit dieser Welt.
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