Urteil in Straßburg: Teilsieg türkischer Jurist:innen
Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte hat die Inhaftierung von Mitgliedern der türkischen Justiz für rechtswidrig erklärt.
Nach dem Putschversuch vom Juli 2016, für den die Türkei den in den USA lebenden Prediger Fetullah Gülen verantwortlich macht, wurde etwa ein Viertel der türkischen Richter:innen und Staatsanwält:innen entlassen: mehr als 4.000 Personen. Einige hundert wurden auch inhaftiert. Ihnen wird die Mitgliedschaft in der angeblichen Gülen-Terrororganisation FETÖ vorgeworfen. Dabei kamen auch schwarze Listen zum Einsatz, die bereits vor dem Putschversuch vorbereitet worden waren.
Das konservative Gülen-Netzwerk war ursprünglich mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan (AKP) verbündet, ab 2012 hatte jedoch ein Machtkampf begonnen, den die Regierungspartei nach dem gescheiterten Militärputsch für sich entschied. Viele Mitglieder der türkischen Justiz waren tatsächlich Gülenist:innen.
Im konkreten Fall hatten 427 türkische Richter:innen und Staatsanwält:innen den Straßburger Gerichtshof angerufen. Auch sie waren 2016 unter Terrorverdacht verhaftet und die meisten von ihnen inzwischen verurteilt worden.
Fast alle Urteile sind noch nicht rechtskräftig
Die türkischen Urteile gegen die Richter:innen und Staatsanwält:innen sind fast alle noch nicht rechtskräftig. Die Betroffenen warten noch auf das Urteil der zweiten Instanz. Sie sitzen wohl überwiegend immer noch in Haft.
Die türkische Regierung hatte geltend gemacht, dass eine Klage in Straßburg noch gar nicht möglich sei, weil zunächst der Ausgang des türkischen Rechtswegs abgewartet werden müsse. Diesen Einwand wies der Straßburger Gerichtshof jedoch zurück. Es sei klar, mit welchen Entscheidungen die Betroffenen rechnen müssen.
Es war absehbar, dass die Massenklage in Straßburg gute Chancen haben würde. In drei Piloturteilen zu einzelnen Richtern (Hakan Baş, Alparslan Altan und Erdal Tercan) hatte der EGMR ab April 2019 deutlich gemacht, dass die Inhaftierung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß, weil sie „ohne vernünftigen Verdacht“ erfolgte. Ihnen konnte keine konkrete Verwicklung in den Putsch nachgewiesen werden.
Im jetzigen Verfahren ging es vor allem um die Frage, ob die 427 Richter:innen und Staatsanwält:innen in Untersuchungshaft genommen werden durften. Eigentlich schützt das türkische Recht die Mitglieder der Justiz vor solchen Eingriffen. Doch es gibt eine Ausnahme, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden. Auf diese Ausnahme berief sich die türkische Regierung. Die Mitgliedschaft in der Gülen-Terrororganisation FETÖ sei eine andauernde Tat, die bis zum Zeitpunkt der Verhaftung währte.
Diese Logik wies der EGMR nun als abwegig zurück. Die Mitgliedschaft in einer Organisation könne keine „in flagranti“-Tat sein. Die Inhaftierung der 427 Jurist:innen sei daher schon nach türkischem Recht illegal und verletzte das Freiheitsrecht der Betroffenen. Auf die Prüfung anderer Vorwürfe verzichtete der Gerichtshof.
Beim Straßburger Gerichtshof sind noch über 500 ähnliche Klagen von türkischen Richter:innen und Staatsanwält:innen anhängig. Gegen das Urteil der siebenköpfigen EGMR-Kammer kann die türkische Regierung noch die 17-köpfige Große Kammer des EGMR anrufen.
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