: Der Schock sitzt immer noch tief
Vor 20 Jahren hat die Pisa-Studie Deutschland wachgerüttelt: mittelmäßige Leistungen und Schlusslicht bei der Chancengleichheit. Doch was hat die Schulpolitik daraus gelernt? Für Kinder aus sozial schwachen Familien hat sich die Lage eher verschlechtert
Von Karl-Heinz Reith
Als vor zwei Jahrzehnten im Dezember 2001 die Ergebnisse der ersten internationalen Pisa-Schulleistungsvergleichsstudie veröffentlicht wurden, schockten besonders zwei Dinge die interessierte deutsche Öffentlichkeit. Im Vergleich mit den Ergebnissen aus weltweit 30 anderen Industrienationen waren die Leistungen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler aus der Bundesrepublik allenfalls unteres Mittelmaß. Doch in Sachen Chancenungleichheit war das deutsche Bildungssystem Deutschlands dagegen ‚Weltmeister‘. In keinem der von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) untersuchten Länder war die Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft so groß wie in Deutschland.
„Viel Chancenungleichheit bei wenig Leistung“, fasst der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm die damaligen Pisa-Ergebnisse zusammen. Doch wie sieht es heute, nach zwei Jahrzehnten in Sachen Chancengleichheit in deutschen Schulen aus? Was haben die Kultus- und Schulminister der 16 Bundesländer aus dem damaligen Pisa-Desaster gelernt? Gibt es für die Kinder aus armen Elternhäusern und aus Familien mit Migrationshintergrund heute, nach 20 Jahren wirklich bessere Bildungschancen?
Bildungsforscher Klemm analysierte dazu im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Ergebnisse diverser Schulleistungsstudien, die seitdem über die vielen Jahre hinweg in zeitlichen Abständen durchgeführt wurden. Für die Grundschulen zog Klemm die diversen IGLU- und die TIMS-Studien heran sowie die Studien des von den Ländern dafür eigens in Berlin gegründeten Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Für die weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I analysierte Klemm die Werte der alle drei Jahre erhobenen Pisa-Studien sowie die entsprechenden IQB-Studien der neunten Jahrgangsklassen. Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen decken insgesamt den Zeitraum von 2000 bis 2019 ab.
Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Klemms Urteil in Sachen Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit fällt vernichtend aus: Echter, dauerhafter Fortschritt sei über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg nirgendwo zu erkennen – weder bei den Leistungsunterschieden in den Grundschulen zwischen Kindern aus der Oberschicht und Mädchen und Jungen aus unteren sozialen Klassen noch bei den Modalitäten des Übergangs aus den Grundschulen in die weiterführenden Schulen, heißt es in dem Gutachten. In den Disziplinen Lesen und Mathematik zeige sich „das Bild einer Stagnation, zum Teil aber auch das einer tendenziellen Verschärfung sozialer Ungleichheit“. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Naturwissenschaften, bei denen seit 2007 in den Grundschulen eine leichte Abschwächung der sozialen Disparität zu beobachten sei.
Dagegen sind beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen die Ergebnisse alles andere als ermutigend. Laut der Pisa-Untersuchung von 2001 hatte ein Grundschüler aus der Oberschicht eine um den Faktor 2,63 höhere Chance, eine Empfehlung für den Gymnasialbesuch zu erhalten, als ein Kind aus einfachen sozialen Verhältnissen – und das bei gemessenen gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleichen Kompetenzen in Lesen und Textverständnis. Klemm: „Dieser Indikator sozialer Benachteiligung hat sich zwischen 2001 und 2016 kontinuierlich verstärkt: von 2,63 auf 3,37. Dieses eklatante Ausmaß schichtenspezifischer Benachteiligung wird in seinen Auswirkungen nur sehr geringfügig dadurch abgeschwächt, dass in den vergangenen Jahren die nicht gymnasialen Schulangebote, die auch zur Erlangung der Hochschulreife führen können, ausgebaut wurden.“
In den weiterführenden Schulen zeigen die Daten der diversen Folgestudien unmittelbar aus den ersten Jahren nach dem Pisa-Schock laut Klemm eine leichte Abschwächung der sozialen Ungleichheiten bei den Leitungen der verschiedenen Schülergruppen. „Dieser Reduzierung folgt dann bis 2018 eine überwiegend durch Stagnation beziehungsweise auch durch einen Wiederanstieg geprägte Phase, in der keine Zeichen eines weiteren Abbaus von sozialer Ungleichheit zu beobachten sind“, heißt es in der Analyse weiter.
Das Gesamtfazit ist beschämend: An der ersten Pisa-Studie vor zwei Jahrzehnten nahmen 31 Industrienationen teil. In Sachen Chancengleichheit landete Deutschland damals abgeschlagen auf dem allerletzten Platz. Bei der bislang letzten Pisa-Erhebung 2018 waren es 36 Nationen. Mit Platz 33 gehört die Bundesrepublik im weltweiten Vergleich heute immer noch zu den absoluten Schlusslichtern bei der sozialen Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler.
Doch wie hat die offizielle Schulpolitik der Kultusministerkonferenz (KMK) auf das Pisa-Desaster reagiert? Noch am Abend der ersten Veröffentlichung im Dezember 2001 verabschiedete die KMK nach turbulenter Debatte ein hektisch zusammengestelltes Papier mit sieben „vordringlichen Handlungsfeldern“. Unter anderem wurden die Entwicklung bundeseinheitlicher Bildungsstandards in Auftrag gegeben und in Folge die Leistungsanforderungen in den Schulen einiger Bundesländer deutlich verschärft. Es wurden weitere regelmäßige nationale und Bundesländer übergreifende Vergleichstests eingeführt. Das Wort „Testeritis“ machte in den Schulen die Runde. Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz sollten bereits im vorschulischen Bereich erfolgen, forderte die KMK. Doch in der Praxis verfolgte jedes Bundesland sein eigenes Konzept. Bundesweit Abgestimmtes gab es nicht. Eine Evaluierung der Förderprogramme ließ Jahre auf sich warten.
Wörtlich werden in dem 7-Punkte-Forderungskatalog der KMK auch „Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ verlangt. Doch was ist seitdem in der Gesamtheit der deutschen Schulen tatsächlich geschehen – sieht man von einzelnen positiven und erfolgreichen Einzelprojekten ab?
Nur mühsam und gegen den Widerstand der Kultusministerinnen und Kultusminister von CDU und CSU aus westdeutschen Bundesländern konnte die damalige Ressortministerin aus Rheinland-Pfalz, Doris Ahnen (SPD), als siebtes Handlungsfeld die Forderung nach Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung durchsetzen. Denn Ganztagsschulen passten vor zwei Jahrzehnten in Westdeutschland noch nicht so recht in das traditionelle Familienbild von CDU und CSU.
Klaus Klemm, Bildungsforscher zur Pisa-Studie 2001
Zugleich entbrannte aber unter den Ländern ein Streit um die bundesweite Vergleichbarkeit der Zeugnisse von Mittlerer Reife und Abitur, der in den Folgejahren die Kultusministerkonferenz weitaus mehr beschäftigte als das Dilemma der fehlenden sozialen Chancengleichheit für benachteiligte Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern.
Die designierte neue Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hat neben den umfangreichen Ankündigungen im Koalitionsvertrag auch das Thema Chancengerechtigkeit auf ihre politischen Fahnen geschrieben. Noch vor ihrer Nominierung sprach sie sich als FDP-Bundestagsabgeordnete gar für eine Grundgesetzänderung im Bund-Länder-Verhältnis bei der Bildung aus. Denn der Bund tut ja finanziell heute schon einiges für die Verbesserung der Schulen, obwohl er laut Verfassung dafür gar nicht zuständig ist.
Seit 2003 unterstützt er mit vielen Millionen den Ausbau der Ganztagsschulen, zahlt aktuell für das Aufholen von Lernschwächen nach der Coronakrise und fördert heute schon einzelne Schulmodelle in besonders schwierigen sozialen Regionen. Stark-Watzinger plädiert für ein „Chancenbudget“, über das die Schulen frei verfügen sollen, um bessere Lernbedingungen insbesondere für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu schaffen.
Sie wird dabei vor allem bei den von der Union regierten Bundesländern dicke Bretter bohren müssen. Als Ende der 90er Jahre – noch im Vorfeld der ersten Pisa-Studie – eine internationale TIMS-Untersuchung den Schülerinnen und Schülern in der Bundesrepublik mangelnde Mathematik-Kenntnisse bescheinigte, bot die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) den Ländern an, diverse Fördermaßnahmen und auch praktische Nachhilfe von Lehramtsstudenten in den Schulen zu finanzieren. Brüsk lehnten die Länder dies ab und pochten auf ihre föderale Zuständigkeit für die Bildung.
Bleibt zu hoffen, dass der neuen Bundesbildungsministerin von der FDP nicht Ähnliches widerfährt.
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