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Kinotipp der WocheKleine Auswahl, echte Perlen

Das Festival Litauisches Kino Goes Berlin präsentiert Kurz- und Langfilme aus Litauen, Estland und Lettland sowie Klassiker der Filmgeschichte.

Preisträger des Festivals: Jurgis Matulevičius’ „Izaokas“ („Isaac“) Foto: LTKino

Verloren geht die junge Agne über den Flur der Kaserne, ihr Bettzeug vor sich in den Armen haltend. Tür für Tür sucht sie nach dem Zimmer, in dem sie einquartiert wurde. Als sie es findet, stellt sie fest, dass sie nicht allein ist. In der Mauerecke über dem Fenster wohnt schon eine Schwalbe und beäugt die neue Nachbarin skeptisch interessiert.

Die junge litauische Regisseurin Marija Stonyté porträtiert in ihrem Langfilmdebüt „Gentle Warriors“ drei junge Frauen, die sich freiwillig zur Armee melden. Wie die männlichen Wehrpflichtigen durchlaufen die drei neun Monate Grundausbildung und robben durch den Schlamm der litauischen Wälder.

Auch wenn Stonytés Film ihren Protagonistinnen nie wirklich nah kommt, ist der Film an überraschendem Thema ein interessantes Gruppenporträt junger Frauen in Litauen geglückt. „Gentle Warriors“ ist Teil der kleinen Auswahl von „Festivalperlen“ des 11. Litauischen Filmfestivals in Berlin.

Zu den vier Festivalerfolgen, die präsentiert werden, gehört auch Jurgis Matulevičius’ „Izaokas“ („Isaac“), der sich in pathetischem Schwarzweiß, aber beeindruckend komplex dem Minenfeld der litauischen Geschichte zwischen 1941 und den 1960er Jahren annimmt.

Der Film beginnt mit einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung im Sommer 1941. Andrius Gluosnis glaubt in dem Juden Isaac jemanden wiederzuerkennen, der ihn für die sowjetischen Besatzer wenige Monate zuvor verhört hat. Als die litauischen Helfer der Deutschen ihm die Gelegenheit geben, ermordet er Isaac.

Verdrängte Geschichte

Gut 20 Jahre später versucht Gluosnis die Ereignisse zu verdrängen als Gediminas Gutauskas, ein Freund aus Jugendtagen aus dem Ausland nach Litauen zurückkehrt. Gutauskas ist in den USA zu einem gefeierten Schriftsteller und Filmregisseur geworden, sein neuer Film soll sich ausgerechnet dem Massaker von 1941 widmen.

Während Elena (die Rolle muss ohne Nachnamen auskommen), die dritte im Bunde der Freund_innen sich über das Wiedersehen freut, verfolgt Gluosnis das Vorhaben mit ähnlicher Skepsis wie der sowjetische KGB, der Gutauskas auf Schritt und Tritt folgt.

Matulevičius adaptiert gemeinsam mit seinen Koautor_innen Saule Bliuvaitė und Nerijus Milerius die gleichnamige, letzte Erzählung des litauischen Schriftstellers Antanas Škėma, geschrieben im Exil in den USA. Škėmas Erzählung gilt als erste Annäherung an litauische Kollaboration mit den Deutschen bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung Litauens.

Wechsel der Perspektive

In der Adaption wird der Protagonist in die drei Freund_innen aufgespalten, dadurch verändert sich auch die Perspektive auf die historischen Ereignisse: statt diese aus einer Binnenperspektive des Protagonisten zu erzählen, wird diese an den drei Freunden durchgespielt.

Lina Lužytė rückt in „Pilis“/“The Castle“, dem dritten Film der Auswahl, das Leben der jungen Monika ins Zentrum. Monika lebt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in ärmlichen Verhältnissen in Dublin. Das Leben kreist um das litauische Gemeindezentrum, mit ihren Freundinnen in der Schule spricht sie Litauisch. Gemeinsam mit ihrer Mutter, einer ehemaligen Pianistin, tritt Monika bei Feierlichkeiten der Gemeinde auf.

Als sie mit ihrer Mutter bei einer Trauerfeier auftritt, wird sie zu einem Konzert auf einem Schloss eingeladen. Monika wittert ihre Chance, den Verhältnissen zu entkommen, die zugleich immer bedrängender werden. Ihre Großmutter zieht sich zusehends in ihre eigene Welt zurück und ihre Mutter muss zugleich immer mehr in einer Fischfabrik arbeiten, um die Familie durchzubringen.

Mikrokosmen der irischen Gesellschaft

Lužytė bevölkert ihren im Grunde recht einfachen Coming-of-Age-Film mit einer Vielzahl interessanter und klug skizzierter Figuren, die dem Film über sich selbst hinauswachsen lassen zu einem Mikrokosmos der Ränder der irischen Gesellschaft.

Der vierte Film der Auswahl, Giedrė Žickytės Dokumentarfilm „The Jump“ zugleich der litauische Beitrag für den Auslands-Oscar, ist gegenüber den anderen drei Filmen der deutlich schwächste. „The Jump“ erzählt die Geschichte einer gescheiterten Flucht des litauischen Seemanns Simas Kudirka von einem sowjetischen auf ein US-amerikanisches Schiff inmitten des Kalten Kriegs.

Leider wird an keiner Stelle des Films klar, warum man von heute aus außer aus reiner Freundlichkeit und allgemeiner Langeweile anderthalb Stunden Lebenszeit für die Geschichte Kudirkas aufbringen sollte.

Ergänzt werden die „Festivalperlen“ durch zwei Kurzfilmprogramme und ein Dokumentarfilmprogramm zur Darstellung von Frauen im litauischen Kino seit der Unabhängigkeit. Auch in der 11. Ausgabe ist das Litauische Filmfestival eine Bereicherung für die Berliner Kinolandschaft und die seltene Gelegenheit, gegenwärtiges litauisches Kino zu sehen.

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