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Der Hexer aus Plano

Der unheimliche Lance Armstrong dominiert die Frankreich-Rundfahrt auch in diesem Jahr. Bei seinen Erfolgen profitiert er immer wieder vom schier unglaublichen Pech seiner größten Konkurrenten

VON SEBASTIAN MOLL

Dass Lance Armstrong seit seiner Krebserkrankung ein anderer Mensch geworden ist, wird kaum bezweifelt. Physisch hat er sich von einem bulligen Fahrer mit Sprintqualitäten zum drahtigen Allrounder gewandelt. Psychisch ist er vom übermütigen American Boy zu einem Champion mit eiserner Disziplin mutiert.

Anscheinend ist mit Armstrong jedoch noch etwas anderes passiert. Alleine in den vergangenen fünf Tagen hat er zwei Kostproben einer ganz besonderen Kunst abgegeben, die er seit 1999 einsetzt, um seine Widersacher auszuschalten. Armstrong scheint auf dem Krankenbett eine magische Kraft gewonnen zu haben: So ließ er Jan Ullrich nur einen Tag vor dem diesjährigen Tour-Start durch die Heckscheibe des T-Mobile-Teamfahrzeugs segeln. Der Deutsche fuhr beim Prolog wie gelähmt und verlor praktisch schon am ersten Tag die Tour. Am Dienstag beim Teamzeitfahren rollte das Team von David Zabriskie der Ziellinie mit guten Aussichten entgegen, das gelbe Trikot zu verteidigen. Doch wie von Geisterhand geschubst segelte Zabriskie in Sichtweite des Siegerpodestes auf den Asphalt und verlor das Trikot sowie jegliche Moral.

Das gelbe Trikot trägt nun Armstrong und wird es sich wohl so schnell nicht mehr nehmen lassen. Bei der gestrigen Massenankunft in Montargis nach 183 flunderflachen Kilometern und dem Sieg von Robby McEwen war es nie gefährdet. Auch bei den welligen, aber nicht unbedingt schweren 199 Kilometern, die heute zwischen Troyes und Nancy zu absolvieren sind, dürfte sich in der Gesamtwertung nichts Entscheidendes ändern.

Man möchte beinahe meinen, der Hexenmeister habe dem Teufel seine Seele verkauft, um den Krebs zu überwinden und die Tour zu gewinnen. 1999, in seinem ersten Siegesjahr, rutschte beinahe das gesamte Feld auf einer mit Schlick übersäten Meeresbrücke aus. Der spätere Tour-Zweite, Alex Zülle, verlor sechs Minuten. Im selben Jahr war Jan Ullrich bei der Deutschland-Rundfahrt verunglückt und konnte nicht antreten. Ebenso der Sieger von 1998, Marco Pantani, der an den Folgen eines Trainingsunfalls litt. 2000 waren Ullrich und Pantani am Start. Pantani beendete seinen aussichtslosen Kampf, Armstrong zu besiegen, mit einer selbstmörderischen Attacke, an deren Ende er vom Rad stieg. Zwei Jahre später wurde er tot in einem ligurischen Hotel aufgefunden. 2001 war die Tour in den Pyrenäen praktisch schon entschieden, doch um sicherzugehen, ließ Armstrong Ullrich auf der Abfahrt vom Tourmalet eine Böschung hinunterschießen. Er wartete, bis der zerrupfte Ullrich wieder auftauchte, nur um ihm dann endgültig davonzufahren.

2003 lag Ullrich einen Tag vor Paris nur eine knappe Minute hinter Armstrong. Es stand ein Einzelzeitfahren an, bei dem Ullrich gute Aussichten hatte, den Seriensieger zu entthronen. Doch das Unvermeidliche geschah: Ullrichs Fahrrad verlor auf regennasser Fahrbahn die Bodenhaftung, der Deutsche schlitterte in den morastigen Straßengraben.

Im vergangenen Jahr trieb es Armstrong ganz toll. Den Basken Iban Mayo, der Armstrong nur Wochen zuvor bei der Dauphiné-Libéré-Rundfahrt gedemütigt hatte, erwischte es in der ersten Woche auf belgischem Kopfsteinpflaster. Tyler Hamilton flog kurz darauf so böse auf den Rücken, dass selbst er die Schmerzen nicht mehr aushielt und aussteigen musste. Ullrich erkältete sich und war in den Pyrenäen völlig entkräftet.

In diesem Jahr muss der Hexer aus Plano, Texas, vorerst niemanden mehr mit einem Spuk belegen. Nach nur vier Tagen ist eigentlich niemand mehr da, der ihm gefährlich werden kann. Höchstens noch Alexandre Winokurow. Doch er sollte sich hüten: Armstrong anzugreifen kann böse Folgen haben.

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