„GRM Brainfuck“ am Thalia Theater: Genervte Zeiten
Dystopie zum Mitwippen: Das Hamburger Thalia Theater hat Sibylle Bergs Roman „GRM Brainfuck“ inszeniert.
So einer nämlich sei das Stück – und auch die Vorlage, fügen wir hinzu –, das steht vorne im Programmheft des Thalia. Er blickt also leicht nach vorne, dieser Stoff, „und handelt doch von nichts anderem als unserer Gegenwart“. Was eine taugliche Beschreibung wäre für Science Fiction, zumindest die, die, sagen wir: im Dunstkreis dieser Zeitung – oder auch eines großen deutschen Sprechtheaters – nicht als Pfui gilt. Nämlich eine, von der wir etwas lernen können.
Diese Irgendwie-Zukunft, die da nun unter Regie von Sebastian Nübling auf die Bühne kommt: Nicht arg weit verlängern müssen – auf irgendwelche Extreme hin – hat Berg die Technifizierung unseres Gefühlslebens oder das Zuschandereiten des Klimas, dessen Auswirkungen mitnichten alle Menschen gleich treffen; die Effekte krass ungleich verteilten Reichtums oder den um sich greifenden Glauben ans Selberschmieden des eigenen Erfolges. Das alles ist doch längst da, oder?
Bloß ist der Roman 2019 erschienen. Das Stück nun kommt rund zwei Jahre später; Jahre, in denen ja auch wieder manches passiert ist.
Original-Grime aus London
Als „sogenanntes Musical“ hat Berg selbst ihre Bühnenfassung bezeichnet, was stimmt, als Grime, dieser inzwischen bestenfalls vorvorletzte heiße Scheiß in britischen Unterklasse-Clubs – als „GRM“ bis in den Titel gelangt – hier zu seinem schmissigen Recht kommt: Originalmusik und -rhymes hat die Londoner Ruff Sqwad Arts Foundation beigesteuert. Dazu tanzen nun in Hamburg Ensemblemitglieder, aber auch authentische Straßentalente, und das teils enorm beeindruckend.
In einem nicht nur sogenannten Musical würden sie gleich noch reimen und rappen, aber das alles kommt vom Band. Was die Schauspielenden viel tun, ist im Chor deklamieren, Berg-Prosa. Ein wenig angestrengt wirkt manchmal das mit demselben Tempo. Diese jungen bis sehr jungen Darstellenden verkörpern, was in Held*innen hier am nächsten kommt: eine Handvoll randständiger, auch kaputtgemachter Jugendlicher, die nicht mehr mitspielen wollen, oder wenigstens nicht so, wie die anderen das erwarten.
Das Komplementäre zum Tanzen und Hacken und der Subversion der Jungen sind Propaganda, Dauergrinsen, Retro-Game-Show-Optik: Vom sich drehenden Riesenbildschirm leuchten Gabriela Maria Schmiede und Tim Prorath auf uns herab, liefern viel Exposition über die Verhältnisse: Wer seine Daten rausrückt, bekommt ein – also mitnichten bedingungsloses – Grundeinkommen, aber irgendwie enden die Menschen doch bloß in engen Schlaf-Betonröhren, Trost vom Existenz-Elend bietet der arbeitstaglange Aufenthalt im Virtuellen.
Die Verschiebung der Hamburger GRM-Premiere war nun ausgerechnet Unglücklichem geschuldet: Krankheitsbedingt. Der neue Termin stellte sich jetzt als irgendwie ganz glücklich heraus: Der Freitag vor den Bundestagswahlen. Das war ja noch mal ein Großkampftag der Klimaschutzbewegung.
GRM Brainfuck: nächste Aufführungen: 8., 21. und 27. 10. sowie 22. 11., jeweils 20 Uhr (3 G); 24. 11., 19 Uhr (2 G), Hamburg, Thalia Theater
Auch in Hamburg waren – je nach Quelle – 26.000 oder auch 80.000 Menschen auf den Straßen. Ein einzelnes Klimaprotestplakat war auch abends, nach der Premiere, vor dem Theater zu sehen. Aber im selben Moment, oder beinahe wenigstens, sagte dann auch eine Zuschauerin zu den sie Begleitenden, das sei ja doch alles nur so eine Art „Black Mirror-Folge“ gewesen, „angesehen in besonders unbequemen Sitzen“.
„Dystopie war das Ding der letzten Jahre gewesen. Alle hatten so eine tüchtige Endzeitangst“: Die Berg'sche Formulierung, im Stück nun noch prominenter zu hören, als sie im Roman zu lesen war, könnte verstanden werden als ein Thematisieren, aber auch eine Art Vorwärtsverteidigung der Autorin: Keine Dystopie will „GRM Brainfuck“ sein, aber eine mutmachende Rebellionserzählung, den Sieg irgendeines Guten setzt sie uns ja auch nicht vor.
Überhaupt muss die Handlung vielleicht aus dem Buch kennen, wer nun im Theater eine Entwicklung sehen will. Mindestens damals in Düsseldorf ist einigen Kritikern das nicht gelungen: Sie bemängelten einen auf der Stelle tretenden Abend – was aber einfach von einem falschen Maßstab künden könnte. Ein DJ-Set funktioniert ja auch nach anderen Regeln, als eine Symphonie.
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