: Woyzeck in der Diaspora
Bei „Radar Ost“ richtet das Deutsche Theater seinen Blick auf die östliche Theaterwelt. „ART(ISTS) AT RISK“ war das Motto des diesjährigen Festivals, unter anderem mit Beiträgen aus Belarus und Russland
Von Katja Kollmann
Woyzeck steht hinter dem Hauptmann, legt ihm einen großen bluttriefenden Hautfetzen um den Hals, würgt und tötet. Die Minsker Theatergruppe Kupalaucy entdeckt in dem über 200 Jahre alten deutschen Klassiker den Prototypen eines Persönlichkeitsmusters, das für die Situation im heutigen Belarus mitverantwortlich ist.
Für den Regisseur Raman Padaliaka ist „Woyzeck ein guter Mensch, aber er ist eben auch ein guter Schüler.“ So lässt er ihn die Gewalt reproduzieren, die der Hauptmann an ihm verübt hat. Der Belarusse Woyzeck ist angezogen wie einer, der für die dortigen Sicherheitsorgane arbeitet. In ihn hinein blicken können wir nicht in dieser kurzweiligen Techno-Oper. Darum geht es auch nicht, denn Büchners Szenen werden hier zu exemplarischen Momentaufnahmen verdichtet, die das Brennglas auf die Strukturen setzen. Marie singt sich die Seele aus dem Leib, der Doktor wird zu einer doppelten Karikatur – im perfekten Synchron-Rhythmus. Die einsame weiße Bank auf der Bühne ist die Scholle, die Welt.
Seit einem Jahr wird das Video der Inszenierung auf Youtube gezeigt. Der Youtube-Kanal der Theatergruppe hat inzwischen 141.000 Abonnenten. Kupalaucy ist eine freie Theatergruppe, die es offiziell in Belarus nicht gibt, weil sie dort nicht existieren darf. Seine Mitglieder sind SchauspielerInnen, die bis August letzten Jahres im staatlichen Janka-Kupala-Theater, dem ältesten Theater des Landes, angestellt waren. Im Zuge der Proteste haben sie eine unabhängige Theatergruppe gegründet. Aufgrund der Pandemie und der poltischen Verhältnisse verlegten sie sich aufs Streaming, aber auch das ist inzwischen nicht mehr möglich. Kupalaucy kann Theaterprojekte nur noch außerhalb des Landes realisieren. Der Lebensmittelpunkt der Mitglieder ist aber – trotz allem – Belarus.
Das Deutsche Theater hat Kupalaucy eingeladen, Woyzeck in Berlin beim Festival Radar Ost zur Premiere zu bringen. So saß letztes Wochenende die zahlreiche belarussische Diaspora in den Kammerspielen des DT. Welch existenzielle Bedeutung Theater unter extremen Umständen erfahren kann, wurde beim Publikumsgespräch deutlich. Raman Padaliaka wiederum beschreibt das Berliner Gastspiel als einen „Ausflug“ in ein nomales Leben, um sich zu vergewissern, dass es so etwas noch gibt.
Birgit Lengers, die Kuratorin des Festivals, erzählt, dass es nicht möglich sei, Gagen auf belarussische Konten zu überweisen. Auch Ada Mukhinas „Risk Lab“ beschäftigt sich mit dieser Problematik. Die russische Künstlerin, die seit einem Jahr in Berlin lebt, lädt über Videoschalte KünstlerInnen ein, die sich im Kontext ihrer Arbeit einem Risiko aussetzen. Bei Radar Ost, das sich „ART(ISTS) AT RISK“ auf die Fahnen geschrieben hat, gibt es nun die dritte Edition des Formats mit dem Duo 12:12 Group. Zwei Laptops, zwei Leinwände, ein paar Stühle für die Gäste und Ada Mukhina im roten Kleid, mehr gibt es nicht in der Box des DT. Mukhina schaltet Anna Sagalchik und Tim Tkachev aus Sankt Petersburg zu. Zwei symphatische Anfangdreißiger lächeln in den Raum.
Die kluge Leichtigkeit, mit der nun existenzielle Themen gestreift werden, ist große Kunst. Man erfährt viel in dieser guten Stunde: etwa von der russischen Bürokratie, die mit einem belarussischen Pass (den beide haben) nicht zu bezwingen ist. Mukhina entwirft Miniformate, die das Ganze interaktiv machen. Das Tutorial „How to protest as a Belarusian“, in dem Sagalchik und Tkachev auf den Straßen von Sankt Petersburg zeigen, wie Belarussen protestieren – mit weiß-roter Kleidung, weißen und roten Rosen, mit „keine Gewalt“-Plakaten ist eine witzige Persiflage gängiger Tutorials.
Die Bildunterschriften aber zeigen, welche strafrechtliche Folgen das jeweilige Verhalten in Belarus und Russland haben kann, und verweisen so auf die repressiven Maßnahmen beider Staaten. In der belarussischen Stadt Grodno wurden elf SchauspielerInnen entlassen, weil sie aus Solidarität mit einem verhafteten Kollegen nicht weiter „Komödie“ spielen wollten, erfahren wir.
Auf der Zielgerade von „Risk Lab“ geht es real darum, wer sein deutsches Bankkonto zur Verfügung stellt, damit Spendengelder in nicht zu großen Mengen dorthin überwiesen werden, um dann physisch nach Belarus zu gelangen. Wir füllen Zettel aus mit der Iban. Schnell steht die Frage im Raum: Wie erzeuge ich Vertrauen, um solidarisch handeln zu können? Ada Mukhina wirft noch ein zweites Fragezeichen hinterher: Wie kann ich Vertrauen in Veränderung haben bzw. schaffen?“
Das war‘s. Antworten gibt es keine. Eine kurzzeitige Solidaritätsgemeinschaft ist entstanden, die das Potenzial hat, weiter zu existieren. Und eine nicht unwichtige Information nehme ich auch noch mit: Es gibt ein belarussisches Kochbuch mit 500 Kartoffelrezepten. Das hätte ich gern.
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