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Ansichten des Leidens

Seuchen beschäftigen die Menschheit nicht erst seit Covid-19: Zwei Ausstellungen verschaffen Corona einen infektionshistorischen Kontext

Von Stella Teige

Auf Paul Ehrlichs dunkelbraunem Holztisch ist kein Platz mehr. Dicht an dicht stehen die Reagenzgläser, an den Wänden gekritzelte Notizen – als hätte der Mediziner eben erst sein Labor verlassen. Der originalgetreue, „bis zum letzten Quadratmillimeter“ nachgebaute Arbeitsplatz des 1915 gestorbenen Pioniers der Immunologie legt ein verblüffend realistisches Zeugnis über die Bedingungen seiner Forschung ab. Gestern und heute, Kulturgeschichte und Naturwissenschaft verschmelzen beim Betreten der Räume des Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museums.

„Seuchen“ heißt schlicht die dortige Sonderausstellung – und das Thema ist an Aktualität wohl nicht zu überbieten. Noch beim Planen der nach eigenen Angaben „weltweit größten Seuchen-Ausstellung“ hatte man in Hildesheim geplant, den Blick strikt in die Vergangenheit zu richten. Dann kam Corona. Der nun grassierenden Pandemie wird kurzerhand eine eigene Station gewidmet, zurückliegende Pandemien lassen sich plötzlich in einen rezenten Kontext setzen.

Ob Pest, Pocken, Cholera oder Spanische Grippe – man sollte meinen, die Menschheit wäre längst geübt im Infektionsgeschehen. Ist sie aber nicht, haben wir vergangenes Jahr gelernt. Und genau dort will man im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum „den Finger in die Wunde legen“, sagt Kurator Oliver Gauert. Gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) trug Gauert 850 Exponante der internationalen Pandemiegeschichte zusammen.

Die Seuchen-Zeitreise trifft auf großen Wissensdurst: Schon morgens ist die Schlange am Eingang lang. Packend führt der Kurator durch die Leiden des alten Ägypten und Übel der Antike, es geht über die Fortschritte der Anatomie bis hin zur Entstehung der Infektiologie. So bedrückend plastisch Krankheiten wie Syphilis und Polio hier dargestellt werden – so hoffnungsvoll soll die eigentliche Botschaft der Ausstellung sein: Sie ruft laut zur Impfung auf. „Die Erfahrungen mit Infektionskrankheiten haben doch gezeigt, wozu Impfmüdigkeit führt“, appelliert Gauert.

Auch in der Coronapandemie sieht er eine Chance: „Pandemien lösen immer einen Innovationsdruck aus“, stellt er fest. Daher habe Corona vereinzelt „zu positiven Veränderungen“ geführt. Für ihn sei es eine Frage der Vernunft: „Wir wollen mit der Ausstellung niemandem Angst machen“, stellt er klar. Allerdings: „Hätte man Corona von Anfang an ernst genommen, wäre es gar nicht erst zur Pandemie gekommen“, so der Historiker. Als Hemmschuh der Prävention hat er die „Angst vor wirtschaftlichem Verlust“ ausgemacht. Die habe auch früher eine ähnlich fatale Rolle gespielt. „Die Ähnlichkeiten sind unübersehbar“, resümiert der Kurator.

Knapp 180 Kilometer nördlich stellt in Hamburg eine kleinere Ausstellung im UKE auch die Frage nach Pandemie-Parallelen: Die Ausstellung dort ist eine Reaktion auf Covid-19, und das merkt man: Corona rückt hier in den Mittelpunkt. Drumherum macht das Medizinhistorische Museum Exponate aus drei krankheitsgezeichneten Jahrhunderten der Öffentlichkeit zugänglich. Dabei setzt die Ausstellung naheliegenderweise einen medizinischen Schwerpunkt. Es geht um Forschungsweisen, Behandlungsmethoden und Eindämmung im historischen Direktvergleich.

Mit dem trotzigen Satz „I continue shaking hands!“ grüßt ein noch nicht an Corona erkrankter Boris Johnson per Video die Be­su­che­r*in­nen am Eingang. Im ersten Raum folgt das passende Thema: Hygiene. Keine politische Kritik zwar will man vorbringen, dennoch räumt Museumsleiter Philipp Osten ein, „positiv überrascht“ gewesen zu sein, dass Deutschland keine englische Haltung eingenommen hatte. „Auch die ethische Seite zu beleuchten, ist Anliegen dieser Ausstellung“, wird er immer wieder betonen.

„I continue shaking hands!“

Boris Johnson (Tories), britischer Premierminister vor seiner Covid-Erkrankung

Als Nächstes betritt man den Eppendorfer Sektionssaal. Detailliert sind die Virusvariantenverläufe an die hohen Wände des Saales gezeichnet, Forschungsberichte verständlich aufbereitet. Der Weg führt weiter in die Vergangenheit, mit jedem Schritt auf ihm wird deutlich, in welch offensichtlicher Verbindung die Reaktion auf Covid-19 und der Umgang mit früheren Pandemien stehen.

Schon zur Zeit des Schwarzen Todes veröffentlichte man prototypische Sieben-Tage-Inzidenzen und häusliche Quarantänen wurden angeordnet. Auch medizinische Maßnahmen nähern sich langsam unseren heutigen Vorstellungen an. Doch Seuchen pauschal zu Innovationstreibern stilisieren? „Das ist natürlich die ganz große Frage“, meint Osten. In einigen Punkten könne man sie sicher als ein Ins­trument des Forschens sehen. „Oft bedeutet eine Pandemie aber eben Rückschritt, eine bleierne Zeit“, sagt der Professor für Medizingeschichte. Wie Gauert in Hildesheim resümiert er: „Gesellschaften fallen immer wieder in die gleichen Mechanismen.“

Auch die Ablehnung wissenschaftlicher Fakten ist keine Geburt der aktuellen Pandemie. Verschwörungserzählungen über Impfungen sind kein Novum, vergangene Seuchen zeigten diese Rhetorik bereits: Eine Karikatur von George Cruikshank spielt mit der Vorstellung, man würde sich nach der Pockenimpfung in eine Kuh verwandeln.

Ständig ruft die Hamburger Ausstellung dabei ins Gedächtnis: Wir sind noch mittendrin. Doch was wird von Corona bleiben? Neben den wissenschaftlichen Errungenschaften stehe der gesellschaftliche Lernprozess, befindet Osten. So hätten wir verstanden, dass „Vereinsamung auch Solidarität sein kann“.

„Seuchen. Fluch der Vergangenheit, Bedrohung der Zukunft“ Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim. Täglich außer montags, 10-18 Uhr. Bis 1. 5. 22

„Pandemie. Rückblicke in die Gegenwart“. Medizinhistorisches Museum des Universitätsklinikums Eppendorf, Hamburg, nur Sa. und So, 13-18 Uhr. Bis 15. 10. 22

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