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Kabuls Bürgermeister über Taliban„Wir müssen den Taliban helfen“

Kabuls Bürgermeister Mohammad Daud Sultanzoy arbeitet seinen Taliban-Nachfolger ein. Er erklärt, warum die Regierung neu besetzt werden muss.

Ein Afghane fährt Fahrrad, während Taliban auf einem Pick-Up patrouillieren Foto: Oliver Weiken/dpa
Interview von Henrik Pomeranz

taz: Herr Sultanzoy, Sie waren Bürgermeister, bevor die Taliban die Macht übernahmen, und sind es immer noch. Wie kam das?

Mohammad Daud Sultanzoy: Den Taliban wurde mit der Flucht von Präsident Aschraf Ghani eine heiße Kartoffel in den Schoß geworfen. Sie haben mir gesagt, dass sie nicht darauf vorbereitet seien, diese große Lücke schnell zu füllen. Sie dachten, die Verhandlungen würden Monate dauern und sie erst an deren Ende in Kabul einmarschieren. Deshalb baten sie mich zunächst, weiterzumachen.

Warum sind Sie nicht wie Präsident Ghani ins Ausland geflohen?

Ich bin in diesem Land geboren und aufgewachsen. Nach der sowjetischen Invasion habe ich wegen der Unterdrückung das Land verlassen. Als ich älter wurde, wurde mir klar, dass wichtige Beamte, die aus ihrer Heimat fliehen, dort ein schädliches Vakuum hinterlassen. Dann vergießen sie Tausende Kilometer entfernt Krokodilstränen über ihr Land und schreiben darüber Essays.

Wichtige Beamte, die aus ihrer Heimat fliehen, hinterlassen ein schädliches Vakuum

Mohammad Daud Sultanzoy

Sie entschuldigen sich aber nicht dafür, dass sie vor dem weggelaufen sind, was sie selbst angerichtet haben. So jemand will ich nicht sein. Ich habe nichts zu verbergen oder zu befürchten. Jetzt ist es an Leuten wie uns, den Taliban zu sagen: Wenn ihr dieses Land wirklich regieren wollt, sind wir da. Wollt ihr unsere Erfahrung nutzen, stehen wir euch zur Seite, um Afghanistan zu helfen.

Der Talib Hamdullah Normani steht schon als ihr Nachfolger bereit.

Im Interview: Mohammad Daud Sultanzoy

ist seit Frühjahr 2020 Bürgermeister von Kabul. Nach ihrer Machtübernahme beließen die Taliban den 69-Jährigen vorerst im Amt. Sultanzoy wurde in Kabul geboren und studierte dort Wirtschaftsingenieurwesen. Später zog er für eine Pilotenausbildung in die USA, wo er viele Jahre als Pilot arbeitete. Nach dem Sturz der Taliban 2001 kehrte Sultanzoy nach Afghanistan zurück und übernahm verschiedene politische Ämter. 2014 kandierte er erfolglos bei der Präsidentschaftswahl.

Er leitet derzeit die Kommission für Gemeinden und gehört auch der Kommission der Stadt Kabul an. Bisher hat er trotz anderslautender Meldungen noch nicht das Bürgermeisteramt übernommen, aber ich gehe davon aus, dass er mich bald ablöst.

Wie ist es, mit den Taliban zusammenzuarbeiten? Weisen Sie Ihren Nachfolger in seine Arbeit ein?

Ja, wir arbeiten zusammen. Er ist ein netter Mann, verständnisvoll, milde und offen. Wir sprechen über verschiedene Themen, und ich versuche, ihm zu helfen. Er war in den 1990er-Jahren während des letzten Taliban-Regimes schon einmal Bürgermeister von Kabul, als die Stadt noch viel kleiner und einfacher zu verwalten war.

Sorgen Sie sich, dass er und die Taliban jetzt genau da weitermachen, wo sie damals aufgehört haben?

Wir müssen realistisch sein und angemessene Erwartungen an die Taliban haben. Zugleich erwarten wir, dass sie sich an bestimmte Normen halten. Denn die afghanische Gesellschaft hat sich verändert, und ich hoffe, dass dies berücksichtigt wird. Die Taliban sind als siegreiche Kämpfer in Kabul einmarschiert, jetzt müssen sie eine Regierung im Dienste des Volkes werden. Im 21. Jahrhundert kann der Kampf mit der Waffe allein ein Volk nicht zufrieden stellen. Es muss um Dienstleistungen, Aufbau und Fortschritt gehen.

Sie glauben, dass die Taliban heute moderater sind?

Ich hatte noch nicht genug mit ihnen zu tun, um mir ein abschließendes Bild machen zu können. Wie andere afghanische Gruppen hat auch diese unterschiedliche Strömungen. Wir wissen noch nicht, wie die neue Politik aussehen wird.

Kann man die Taliban nicht schon danach beurteilen, wie sie ihre Regierung zusammengestellt haben? Sie enthält nur Taliban und keine einzige Frau.

Nach meinen Informationen handelt es sich um eine vorläufige Regierung. Alle amtieren nur geschäftsführend, um erst mal schnell handeln zu können. Natürlich gibt es bestimmte Posten, die besondere fachliche Fähigkeiten erfordern. Deshalb sollte man bald über Veränderungen in diesem Kabinett nachdenken. Denn diese Regierung wird nicht genügen, schaut man sich die technischen Aspekte der Bedürfnisse des Landes an, ebenso im Hinblick auf die internationalen Beziehungen.

Es geht nicht nur darum, dass Frauen in der Regierung vertreten sind, sondern auch um viele technische Aspekte. Wir sollten uns nicht nur auf die Symbolik versteifen. Mein Vorschlag wäre, dass die Taliban die Ämter in Sicherheit, Justiz und vielleicht auch den Posten des Generalstaatsanwalts behalten. Aber es wäre besser, technische Kabinettsposten wie Finanzen und Wirtschaft mit kundigen Technokraten zu besetzen, die keine Taliban sind.

Während Jungen wieder in die Schule dürfen, müssen Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren zu Hause bleiben. Was heißt das für die Rechte von Frauen?

Wichtig wird sein, wie die Scharia von den Taliban ausgelegt werden wird. Denn auch in der Scharia haben Frauen Rechte – mehr Rechte, als Sie sich vielleicht vorstellen können. Ich will den Frauen in Afghanistan nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, aber ich denke, dass 99 Prozent der Frauen hier eine völlig andere Kultur haben als in anderen Ländern. Wir können afghanischen Frauen nicht die westliche Kultur aufzwingen. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass Frauen gleiche Rechte wie Männer haben, nämlich etwa das Recht zu arbeiten und auf Bildung.

Mir wurde gesagt, die Taliban würden gerade Vorschriften ausarbeiten, um den Rahmen zu definieren, in dem Frauen arbeiten und zur Schule gehen können. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass auch Mädchen bald wieder in die Schule dürfen. Wir müssen uns aber auch um die Bedürfnisse von Frauen auf dem Land kümmern, dass sie nicht bei der Geburt ihres Kindes sterben oder ihre Kinder an Unterernährung.

Ihr designierter Nachfolger Hamdullah Nomani hat verkündet, dass weibliche Angestellte der Stadtverwaltung nicht mehr zur Arbeit kommen sollen, nur jene, deren Arbeit nicht von einem Mann gemacht werden kann. Die Zeichen der Taliban sind doch deutlich, oder?

Ich war nicht dabei und kenne den Inhalt der Pressekonferenz von Herrn Nomani nicht. Darum kann ich das nicht kommentieren.

Was beschäftigt Sie und Ihre Mitarbeiter derzeit am meisten?

Am dringendsten ist es für uns, die städtischen Dienstleistungen am Laufen zu halten, wie etwa Wasserversorgung und Instandhaltung von Straßen und anderer Infrastruktur. Wir bekommen keine Mittel von der Regierung, und unsere Einnahmen sind beeinträchtigt, weil das Finanzsystem am Boden liegt. Ohne Einnahmen leiden auch unsere Dienstleistungen.

Was könnten Länder wie Deutschland tun, um den Menschen in Afghanistan zu helfen?

Deutschland ist nicht der Freund von Afghanistans Regierungen, aber des afghanischen Volkes. Und falls diese Taliban-Regierung dem afghanischen Volk hilft, sollte Deutschland auch der Regierung helfen. Soweit ich weiß, stehen deutsche Stellen seit Jahren mit den Taliban in Kontakt, um den Frieden zu fördern. Das kann jetzt für Gespräche genutzt werden.

Halten sich die Taliban an die Rechtsstaatlichkeit, an der es die letzten zwanzig Jahre gemangelt hat, würde uns allein das schon auf den richtigen Weg bringen. Aber wir brauchen auch eine Regierung, die inklusiver ist, ohne dass sie diejenigen einschließt, die in den letzten zwanzig Jahren an der Macht waren. Nur so kann die neue Regierung mit den Nachbarstaaten und der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten. Wir dürfen keine Paria-Nation werden, sondern brauchen ein Regime, das auf Interessen anderer Länder Rücksicht nimmt und Teil der internationalen Gemeinschaft werden kann.

Und da ist Deutschland unser wichtigster Freund, der eine politische, finanzielle und auch humanitäre Rolle spielen kann. Momentan sind wir in vielen Bereichen vom Rest der Welt abgeschnitten. Unsere Unternehmen können keine Finanztransfers durchführen, und die Kredite reichen nicht ewig. Deshalb könnten unsere Lebensmittelimporte abreißen. Dazu kommen die Dürre und zerstörte Versorgungswege und Transportmittel. Wir stehen vor einer Katastrophe epischen Ausmaßes.

Wie sieht die Vision ihres Nachfolgers Hamdullah Nomani für Kabuls Zukunft aus, wie will er die Stadt gestalten?

Wir haben das nicht besprochen, weil wir noch keine Gelegenheit hatten, so tief in die Materie einzusteigen. Ich habe elf Regierungs- und Regimewechsel erlebt, vom König bis hin zur aktuellen zweiten Herrschaft der Taliban. Es ist ein sehr kompliziertes Land und eine schwierige Zeit. Ich hoffe, dass wir das Leben von Millionen Menschen nun zum Besseren verändern können.

Warum sollte es den Menschen trotz des Taliban-Regimes besser gehen als in den letzten zwanzig Jahren?

Ich bin sicher, dass es möglich ist! Wenn es die Taliban ernst meinen, das Leben der Afghanen, die zu den ärmsten Menschen der Welt gehören, zu verbessern, dann haben sie großen Spielraum dafür. Sie müssen nur einen pragmatischen Ansatz für den Wiederaufbau wählen. Das allein wird uns weiterbringen, als wir je waren. Wir müssen Entwicklungsprojekte vorantreiben, die Korruption eindämmen und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen.

Das Land ist nicht arm, sondern die Armut wurde ihm durch Missmanagement und Korruption aufgezwungen. Wir müssen den Taliban jetzt helfen. Ich und viele andere sind in diesem Land geblieben, weil wir ihm dienen wollen. Es ist genauso unser Land, wie es das der Taliban ist. Niemand kann unsere Liebe zu diesem Land infrage stellen. Deshalb sind wir bereit, dieser Nation zu dienen, und die Taliban sollten uns den Raum dafür geben.

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