AnalphabetInnen in Deutschland: Lesen wie ein Drittklässler
Rund sechs Millionen Deutsche können nicht richtig lesen und schreiben, nur langsam sinkt ihre Zahl. Wie lässt sich diesen Menschen helfen?
Die gute Nachricht: Die Zahlen scheinen zumindest in Deutschland rückläufig. Vor 10 Jahren waren es hierzulande noch über 7 Millionen. Bildungsministerin Anja Karliczek wertet den Rückgang als Erfolg der Bildungspolitik. Dazu beigetragen hätten geeignete Selbstlernangebote sowie die Enttabuisierung des Themas, so die CDU-Politikerin.
Die Bildungsgewerkschaft GEW findet dagegen, dass dringend mehr gegen Analphabetismus in Deutschland getan werden muss. Zum UNESCO World Literacy Day am Mittwoch, 8. September sagte Ralf Becker, GEW-Vorstandsmitglied: “Bis heute wird sich zu wenig um die Menschen gekümmert, die Schwierigkeiten haben, beruflich und gesellschaftlich Fuß zu fassen.“ Die Zahl von rund 6 Millionen gering literarisierten sei „beschämend für eines der reichsten Länder der Welt“.
Ohnehin sehen die WissenschaftlerInnen der LEO-Bildungsstudien insbesondere eine veränderte Bevölkerungsstruktur als Grund für die verringerte Zahl der Menschen, die schlecht oder nicht lesen können: Bildungsstand und Erwerbstätigkeit haben sich verbessert – durch den demografischen Wandel kommen in den jungen Altersgruppen weniger gering Literalisierte hinzu. Andere sind aus dem untersuchten Alter (18-64) einfach rausgewachsen.
Immerhin das Tabu bröckelt
Was bedeutet es, nicht richtig lesen zu können? Wer Hilfe braucht, meldet sich oft telefonisch bei Ralf Häder und seinen Kollegen vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., einer Fach-, Service- und Lobbyeinrichtung. Bundesweit gehören ihr 400 Institutionen und Einzelpersonen an. „Die Sorgen, mit denen die Anrufer sich melden, sind ganz unterschiedlich, aber alle verbindet ein momentaner, subjektiver Leidensdruck“, sagt Häder. Sie wollen ihren Kindern vorlesen und merken, dass das so nicht klappt. Oder sind durch einen Todesfall oder eine Trennung aus einer Beziehung herausgefallen, in der ein Partner lesen kann und der andere nicht.
Etwa 60 Prozent der gering Literalisierten sind arbeitstätig. Zum Beispiel als Küchenhilfe, Reinigungskraft, Elektriker oder Fernfahrer. Durch geschickte Taktiken verstecken sie ihren Mangel an Lese- und Schreibkompetenz vor ihrer Umwelt. Sie lernen relevante Begriffe auswendig, setzen auf mündliche Kommunikation oder füllen Formulare lieber zu Hause aus – wo sie Hilfe haben. Sie bewegen sich ungefähr auf dem Lese- und Schreibniveau von Drittklässlern.
Ralf Häder erzählt weiter: „Manchmal rufen Kinder für ihre Eltern an, oder Menschen, die ihre berufliche Laufbahn ändern wollen oder müssen, zum Beispiel weil neue und überfordernde Schriftanforderungen gestellt werden.“ Häder und seine Kollegen können dann aus einem Kursrepertoire von mehr als 1.100 Angeboten das passende herausfinden. „Aber vor allem fragen wir die Anrufer zunächst: Wo drückt der Schuh? Wo brauchen Sie Unterstützung?“
Grundbildungskurse werden hauptsächlich von den Volkshochschulen angeboten – allerdings meist kostenpflichtig. Im Kampf gegen den Analphabetismus haben Bund und Länder 2016 die sogenannte AlphaDekade für Alphabetisierung und Grundbildung ins Leben gerufen. Allein zum Alphabetisierungstag finden deutschlandweit über 65 Aktionen statt. „Das ist mehr als noch vor ein paar Jahren denkbar gewesen wäre, das Tabuthema bröckelt“, sagt Häder.
Die Dekade ist zu kurz
Deutlich sei in Pandemiezeiten aber auch, dass die Bildungsschere schon bei den Jüngsten weiter auseinanderklafft. Das Online-Lernen ist in beengten Wohnverhältnissen bei weniger Unterstützung durch die Eltern schwieriger. „Wenn Sie beispielsweise mit zwei weiteren Geschwistern im Zimmer wohnen, können sie kaum an einem videobasierten Lernen teilnehmen,“ so Häder, „auf Nachhilfe und Unterstützungsangebote greifen eher bildungsaffine Haushalte zu.“
Eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Befragung der Stiftung Lesen zur Halbzeit der AlphaDekade zeigt, wie Digitalisierung das Problem verschärft: Wer bildungsfern ist, wird mit der fortschreitenden Digitalisierung des Alltags zunehmend benachteiligt. Was vor kurzem noch persönlich erledigt werden konnte, wie zum Beispiel Behördengänge, Terminvereinbarungen oder Einkäufe, erfordert vermehrt Digitalkompetenz, die wiederum Lese- und Schreibkompetenz voraussetzt.
Und der Zugang zu digitalen Bildungsangeboten fehlt. So sagen 31 Prozent der Befragten mit einfacher Bildung, es falle ihnen schwer, hinsichtlich der Coronapandemie die Information zu bekommen, die sie suchen und brauchen – bei den höher Gebildeten sind es 15 Prozent. Problematisch sei dabei die Länge, Fülle und Komplexität der Information, die insbesondere digital verfügbar ist.
Die AlphaDekade ist jetzt in der Halbzeit. Fragt man Ralf Häder, ist eine Dekade nicht weit genug gedacht. Es müsse mehr getan werden, längerfristig: „Es muss deutlich werden, dass das Projekt 2026 nicht aufhört, sondern dass es ein Thema ist, dass uns weiter verfolgt. Es muss in eine Regelförderung übergehen und es muss mehr investiert werden in Lebenspraxis-orientierte, flächendeckende und kostenfreie Beratungs- und Bildungsangebote.“
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