Das kleine Welttheater

Der Klimawandel treibt auch Theaterleute um. Die Bremer Shakespeare Company bringt mit Simone Sterrs „99 Schritte zum Meer“ein Drama zur Uraufführung, das die Erderwärmung in einem Paralleluniversum verhandelt. In dem leben die Dinosaurier noch

Über die Not der Figuren emotionalisieren und Räume auftun: Probenfoto von „99 Schritte bis zum Meer“ im Theater am Leibnizplatz Foto: Marianne Menke/bsc

Von Johanna Sethe

Waldbrände in Australien, Hochwasser in Nordrhein-Westfalen, Artensterben, eine Jugend, die streikt. Und dann noch ein niederschmetternder IPCC-Bericht: So fühlt sich Klimawandel an. Möchte man darüber ein Theaterstück schreiben, muss man parallel wohl sicherheitshalber Dauernachrichtensendungen laufen lassen, um auch ja keine Katastrophe zu verpassen, so könnte man meinen.

Oder aber: Man erzählt eine Geschichte. Eine Familie, ihr Hotel auf einer kleinen Insel und ein Meeresspiegel, der steigt. Der Klimawandel als Erbe, als intergenerationeller Konflikt, als Familiendrama. „99 Schritte zum Meer“ heißt das Stück, das am 24. September im Theater am Leibnizplatz Premiere feiert. Damit will sich die Bremer Shakespeare Company nun an das große Thema „Klima“ wagen.

Die Handlung geht zurück in eine Zeit um 1980 und schaut in eine nahe Zukunft. Ein Hotel auf einer kleinen Insel am Nordseestrand, ein Wirtschafts- und Familienunternehmen. Die Eltern, die es aufgebaut haben, sterben früh. Der Sohn beschließt, der Insel den Rücken zu kehren.

Seine Zwillingsschwester, die eigentlich Meeresbiologin werden wollte, übernimmt das Hotel zunächst widerwillig und macht daraus schließlich ein klimaneutrales Biogasthaus – von dem mit Braunkohle verdienten Geld ihres Ehemannes. Ihr Kind, eine junge Frau in ihren 20ern, sucht nach Wegen, sich aufzulehnen und der Klimakrise global zu begegnen. Sie geht nach China, um dort Karriere zu machen. Sie will radikaler sein als ihre Eltern und Großeltern. Sie findet, der Wandel muss neue Technologien miteinbeziehen und er muss schneller gehen.

„99 Schritte zum Meer“ ist ein Mehrgenerationenstück, eine Mehrperspektivengeschichte. „Das Thema ist inhaltlich so breit, wir können nicht die große Welt erzählen“, sagt Peter Lüchinger, Schauspieler der Bremer Shakespeare Company und Teil der Besetzung im Stück. „Aber was wir können, ist ein Familienalbum aufmachen, durch das der Zuschauer durchblättert, mit Schlaglichtern auf den Lebensgeschichten und Haltungen einzelner Personen.“

Bremer Shakespeare Company: „99 Schritte zum Meer“, UA am Freitag, 24. 9., 19.30 Uhr; Aufführungen am 25. 9. sowie 2., 8. und 23. 10., jeweils 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz, Bremen

Das Stück springt in den Zeiten, ist nicht eindimensional und nicht chronologisch. Man wolle über die Not der Figuren und die Wege, die sie finden, emotionalisieren und Räume auftun, in denen das Publikum sich selbst hinterfragen kann, nicht aber klimawissenschaftliche Fragen beantworten, so Lüchinger.

Bigger Picture. Wie gehen wir mit unserer Umwelt um? Was haben wir mit unserem Handeln verursacht? Was geben wir weiter? Und an wen? Wie muss Widerstand aussehen? Und wie können wir Einfluss auf Wandel nehmen? Das Wort „Erbe“ soll in dem Klimastück eine ­zentrale Rolle spielen. Erben kann man Geld oder ein familiengeführtes Hotel. Aber eben auch einen steigenden Meeresspiegel.

Was außerdem eine Rolle spielt: Fantasie. In „99 Schritte zum Meer“ sind die Dinosaurier nicht ausgestorben, sondern an die gegenwärtige Umwelt angepasst und schlauer als zuvor. Der verstorbene Vater kehrt in seinen Haltungen und seinem Geist Generationen später in Form eines jungen Kochs in das Hotel zurück. Theatrale Behauptungen in einem leeren Raum. Keine Stühle, keine Filmkulisse, keine Abbildung der Realität soll es auf der Bühne geben.

Simone Sterr, ehemals leitende Schauspiel-Dramaturgin am Theater Bremen, hat das Stück geschrieben, Regisseur Ralf Siebelt hat es in Szene gesetzt. Ein Jahr lang hat sich das Ensemble mit dem Thema „Klima“ beschäftigt, immer wieder über mögliche Ansätze debattiert – nicht zuletzt auch in den sogenannten Netzgesprächen, in denen die Shakespeare Company im Vorfeld Wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Interessierte per Zoom zu Vorträgen und Diskussionen einlud. Schon hier war immer wieder formuliert worden, man wolle „der Natur eine Stimme geben, die sie sonst nicht hat“.

„Was wir können, ist ein Familienalbum aufmachen, durch das der Zuschauer durchblättert, mit Schlaglichtern auf den Lebensgeschichten einzelner Personen“

Peter Lüchinger, Schauspieler

Nun ist das ein Vorhaben, das auch jeder zweite Super-Kapitalist mittlerweile für sich entdeckt zu haben scheint. Spätestens seit Greta sich vor drei Jahren mal über ein paar ganz grundsätzliche wirtschaftliche und klimapolitische Missstände beschwerte und damit Millionen Menschen hinter sich vereinte, kann man in jedem Fast-Fashion Geschäft T-Shirts kaufen, auf denen so was wie „Save the Planet“ steht und in jede x-beliebige Talk-Show zappen, um x-beliebige Promis und Po­li­ti­ke­r*in­nen sagen zu hören, dass ihnen dieses Thema „wirklich auch total am Herzen liegt“.

Shakespeare hingegen ist wohl nicht der erste, dem man das Thema „Klimawandel“ Ende des 16. Jahrhunderts als persönliches Steckenpferd zuschreiben würde. Warum also die Bremer Shakespeare Company? Und warum gerade jetzt? „Weil es uns alle beschäftigt, im Theater, aber auch privat“, sagt Peter Lüchinger. Viele der Schau­spie­le­r*in­nen hätten selbst Familie und Kinder, erbten und vererbten also irgendwas. Erde und Weltklima zum Beispiel. Neben den Shakespeare-Inszenierungen gebe es im Spielplan der Company immer auch eine zweite Schiene, die Dramatikerwerkstatt, in der das Ensemble Themen entwickele. Aktuelle Themen. Das Thema „Klimawandel“ schwirre da schon lange herum. Darüber hinaus könne man sich von Shakespeare den einen oder anderen Trick abgucken, sagt Lüchinger. So habe Shakespeare oft an großen Welten kleine Welten erklärt. Der Klimawandel als Familiengeschichte.

Shakespeare hat indirekt erzählt, er hat nicht klar gesagt, was gut und was böse ist, sondern Figuren in Konflikte treten lassen und sie so sehr nah an den Zuschauer gebracht“, sagt Lüchinger. „Die Leute haben dann gemerkt, dass das irgendwie was mit ihnen zu tun hat.“ So ähnlich solle das auch in „99 Schritte zum Meer“ sein. Zumindest, dass der Klimawandel tatsächlich etwas mit jedem Einzelnen zu tun hat und auch eine gewisse Verantwortung impliziert, wäre wohl eine durchaus sinnvolle Publikums-Erkenntnis. Gerade jetzt. Zwei Tage vor der Wahl.