Mentalität Mecklenburg-Vorpommerns: Weit, eng und schön
Mecklenburg-Vorpommern ist Land und Stadt. Die Leute wohnen im Eigenheim oder zur Miete in der Platte. Was ist eigentlich typisch da oben im Norden?
Da sitzen wir Ende August im Urlaub auf der Terrasse eines alten Bauernhauses in einem Dorf nahe Münster und reden bei einem edlen italienischen Wein über die Urlaubspläne in diesem Jahr, die gescheiterten. Wir, mein Mann und ich, sind eben drum statt in Italien bei den guten Freunden im Münsterland zu Besuch. Und da komme ich auf die Frage, was den Gastgebern so auf die Schnelle an Assoziationen einfällt, wenn es um Mecklenburg-Vorpommern geht.
Es purzeln ein paar Begriffe und Namen. Als Erstes – und unerwartet – der „Polizeiruf 110“ aus Rostock, mit das Beste, was die ARD an Krimis zu bieten hätte, sagt der Freund; vor allem Schauspieler Charly Hübner in der Rolle als Bukow hat es beiden angetan. Dann folgen „viel Landschaft und Weite, die Seen, das Meer, Wind und Urlaub“. Dazu kommt Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, „eine coole Frau“, wie die Freundin erklärt. Und erwartungsgemäß erwähnen sie auch die „schweigsamen und rauen Leute“. Aber keine Nazis, keine AfD-Wähler:innen? Nö. Mit diesen Klischeebildern können sie nicht dienen.
Dieser Text schlägt einen anekdotenhaften Bogen, völlig subjektiv, auf der Suche nach Deutungen. Vor allem war der Redaktion wichtig, dass da jemand schreibt, der selbst aus Mecklenburg-Vorpommern stammt. Das Wort vom „Stallgeruch“ passt hier ganz gut. Ich wurde 1966 ganz am westlichen Rand des Bundeslandes geboren, das zu DDR-Zeiten in die drei Bezirke Schwerin (wo ich in einem kleinen Dorf aufwuchs), Rostock und Neubrandenburg aufgeteilt war. Und weil ich 1992 nach Berlin zog und seitdem dort lebe, habe ich genug Abstand zur alten Heimat.
Man könnte damit anfangen, wo die Leute leben. Städtisch oder dörflich, das macht einen Unterschied. Denn so ein eher dünnbesiedeltes Flächenland – auch wenn die Weite ja gern romantisiert wird – hat seine Schattenseiten. Die weiten Wege! Meck-Pom ist deshalb ein Autoland, Stichwort Baumalleen (wunderschön, mitunter jedoch gefährlich). Es gibt menschenleere, dafür tierreiche Gegenden, viele Wälder und Wiesen und Seen – und eben die Ostsee. Und dann sind da riesige Felder, ein Erbe der DDR mit ihren Großbetrieben. Zur Rapsblüte erstrahlt das halbe Land in sattem Gelb, wie herrlich. Mecklenburg-Vorpommern gilt als beliebtestes Reiseziel innerhalb Deutschlands!
Eigenheim und Neubaublock
Man könnte damit fortfahren, wie die Menschen leben. Die einen sind in alten Häusern aufgewachsen, die schon ihren Eltern und Großeltern gehörten. Die anderen sind in Plattenbauten groß geworden, die in DDR-Zeiten überall gebaut wurden – in fast jedem Dorf gab und gibt es ein paar Blöcke. Man könnte also sagen, dass die einen Hausbesitzer sind, die ihre Immobilien weitervererben können. Die anderen aber sind– überspitzt gesagt – Habenichtse, die immer nur zur Miete wohnen. Diese Ungleichheit setzte sich nach dem Fall der Mauer fort, nicht jede:r konnte sich den Bau eines Hauses leisten.
Zur Mentalität des Landes gehört die Flüchtlingsfrage. Nicht die von 2015. Schon eher die kurz nach der Wende, als der rechte Mob Flüchtlingsheime anzündete, wie schrecklich, wie beschämend. Gemeint ist die vor über 70 Jahren. „1950 lag der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung Mecklenburgs bei rund 46 Prozent“, ist im Archiv der Schweriner Volkszeitung zu lesen. Die Einwohnerzahl hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu verdoppelt. „Dieser Teil der sowjetischen Besatzungszone nahm prozentual die meisten Vertriebenen auf – mehr als 980.000.“
Ich stamme von Vertriebenen ab (und bin in einem Neubaublock aufgewachsen), meine Mutter musste aus Schlesien fliehen, mein Vater aus dem Sudetenland – in Mecklenburg haben sie sich kennengelernt. Traumata aus Krieg und Vertreibung hängen auch den nachwachsenden Generationen an, sie wirken fort, das habe ich an meinen Eltern gesehen. Und das gilt auch für seelische Verletzungen, die den Umsiedlern, so der DDR-Jargon für Vertriebene, in der neuen Heimat von den Alteingesessenen zugefügt worden sind.
Von Slawen, Wikingern und Schweden
Ich habe die Erzählungen noch immer im Sinn, kann sie bei der Schwester meiner Mutter bis heute abfragen. Wie unbeliebt die Flüchtlinge in den ersten Jahren bei den Bauern und Fischern waren, wie verachtet und verhasst. Wie bei Beerdigungen jahrzehntelang die Trauergemeinde zweigeteilt am Grabe stand, auf der einen Seite die Einheimischen unter sich, auf der anderen die Flüchtlinge.
Hinzu kommen das DDR-Bildungssystem und eben das ganz normale Leben im realsozialistischen Alltag vier Jahrzehnte lang, in der Nische, in der „kommoden Diktatur“.
All das steckt in den Menschen im östlichen hohen Norden drin. Mischpoke ist ein passendes, aus dem Jiddischen stammendes Wort, wenn man die Leute in Mecklenburg-Vorpommern mit all den Einflüssen slawischer Stämme (was man noch heute an den vielen Ortsnamen, die auf -ow wie Warnow enden, erkennen kann) oder skandinavischer Besetzungen (die Wikinger, die Schweden) und nicht zuletzt durch die Flüchtlinge in früherer und jüngster Zeit beschreiben soll.
Das geht auch kulinarisch. In meiner Person vereinen sich die Vorlieben für Mohn (Schlesien) und Kümmel (Sudetenland) und Klöße (Schnittmenge beider Regionen) mit Kartoffeln und Fisch in allen Varianten, egal ob geräuchert, gebraten, in Aspik, sauer eingelegt oder als Heringssalat.
Die Vorliebe für Fisch ist vielen Menschen im hohen Norden in die Wiege gelegt. Na ja, Fischbrötchen sind ja auch so ziemlich das genialste wie praktischste und gesündeste Essen überhaupt. Fischbrötchen sind der kleinste (oder besser größte) gemeinsame Nenner. Und schlimm in dieser Saison: Wegen Arbeitskräftemangel gibt es hier und da Engpässe in der Versorgung an der Ostseeküste. Wie das ZDF am 4. September in seiner Nachrichtensendung „heute“ berichtete, kann man dienstags in der „Fischkiste“ in Zinnowitz auf Usedom keine Fischbrötchen kaufen, weil der bekannte Imbiss geschlossen ist.
Letztens hab ich bei einer Feier zur Einschulung einer meiner zahlreichen Großnichten zum ersten Mal gegrillten Hecht gegessen, echt lecker. Der stammte aus dem Schaalsee bei Zarrentin. Ein Bekannter hatte ihn geangelt, ein patenter junger Mann, der sein Leben in Griff hat, gutes Geld für harte Arbeit verdient, zwei kleine Kinder hat, zur Miete wohnt. Wir verstehen uns gut. Nur politisch nicht. Er wählt die AfD, die laut Umfragen derzeit bei rund 17 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern liegt. Und warum? „Weil die anderen Parteien es nicht hinkriegen“, hat er mir bei einem Cola-Whisky erzählt.
Der rechte Bruder
Das hat mich an meinen Bruder erinnert, der vor etlichen Jahren bei Landtagswahlen stets die NPD wählte (die AfD gab es noch nicht). Ich war geschockt. „Die da oben machen doch eh, was sie wollen“, das war sein Argument für seine Art von Protest. Eins, das ich aus DDR-Zeiten kannte. Ein Ohnmachtserleben gegenüber dem damals diktatorischen und heute demokratischen Staat – ohne irgendeinen Unterschied machen zu wollen oder zu können. Gang und gäbe in Mecklenburg-Vorpommern. Und nicht nur da.
Dabei sind die Leute in meiner alten Heimat liebenswert. Man muss sie nur näher kennenlernen. Klar, das ist mitunter nicht einfach. Viele Menschen geben sich zugeknöpft und Fremden gegenüber reserviert. Wer sich traut, Leute anzusprechen, hat aber gute Karten, ins Gespräch zu kommen. Die Menschen da oben sind hilfsbereit, sind gesellig und essen und trinken und feiern gern.
Und wer Glück hat, erwischt jemanden, der Plattdeutsch sprechen kann. Das klingt nicht nur ungemein sympathisch, mit Plattdeutsch lässt sich auch Unangenehmes auf eine nette Art sagen. „Schietwetter“ klingt einfach schöner als „Scheißwetter“.
Ja, mal stimmen die Klischees über die Einheimischen, mal sind sie einfach Käse. Mecklenburg-Vorpommern ist vor allem überraschend. Es gibt kulturelle Leuchttürme wie das Schweriner Theater oder die Kunsthalle Rostock – und viel kulturelle Einöde. Es gibt Ökodörfer und Bioenergiedörfer wie Bollewick – nominiert für den taz Panter Preis. Und ja, es gibt Dörfer, in denen sich vermehrt Neonazis ansiedeln.
Dieses Jahr stand die Ostseeinsel Poel auf unserem Urlaubsprogramm. Mein Mann und ich stiegen in einem kleinen Hotel mit 19 Zimmern ab. Oft ist man dann das einzige schwule Paar in so einem Provinzhotel. Aber diesmal nicht. Im Frühstücksraum saß schon ein schwules Pärchen, man sagte sich erkennend „Hallo“. Und mehr noch: Das Hotel gehört sogar einem schwulen Paar, sie führen es seit 2019 und wollen es demnächst um ein weiteres Haus in unmittelbarer Nachbarschaft erweitern. „Schön ist es“, sagte der Hotelier beim Auschecken, „wenn wir hier unsersgleichen empfangen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS